Es ist ein Tag der Superlative für Chile: Gabriel Boric wird mit 36 Jahren der bisher jüngste Präsident des Landes. Im neuen Kabinett sind erstmals mehr Frauen als Männer. Und seine Wählerinnen und Wähler sind jene, die bei den Massenprotesten der letzten Jahre eigentlich am liebsten alle Politiker aus dem Amt gejagt hätten: Sie sind die soziale Ungleichheit im Land leid. Sie wollen Bildungschancen für alle. Sie fordern würdige Renten und ein funktionierendes Gesundheitssystem für alle Bürgerinnen und Bürger. Wie viele ihrer Forderungen Gabriel Boric umsetzen kann, daran werden sie ihn messen.
Eine Gruppe wird seine Arbeit besonders kritisch verfolgen: Jene, die während der Proteste Opfer von Polizeigewalt wurden. Mehr als 400 Menschen wurden zwischen Oktober 2019 und März 2020 von Gummikugeln oder Tränengasgranaten der Polizei an den Augen verletzt. Sie fordern Aufklärung der Taten – und Gerechtigkeit. Denn die wenigsten der Tatverdächtigen wurden bisher vor Gericht gestellt, selbst wenn Videobeweise vorliegen.
So ist es auch im Fall von Gustavo Gatica, der im November 2019 durch Polizeigeschosse auf beiden Augen erblindete. «Die Polizei behauptete anfangs, dass der Polizist, der auf mich geschossen hat, gar nicht bei den Protesten war an diesem Tag. Erst als ein Video auftauchte, mussten sie es zugeben», sagt Gatica.
Chile brauche eine funktionierende Polizei, die nach demokratischen Massstäben handelt, betonte Boric mehrfach im Wahlkampf und versprach eine Reform.
Kaum Verurteilungen
Menschenrechtsexperten fordern eine solche schon lange: Die Polizei in Chile sei seit der Pinochet-Diktatur nie wirklich reformiert worden in ihren Strukturen, sagt Rodrigo Bustos, Direktor von Amnesty International Chile. «Die Gewalt gegen Demonstrierende bei den Protesten der letzten Jahre muss untersucht und bestraft werden», fordert Bustos. «Nach Angaben der Staatsanwaltschaft wurden bei den Protesten zwischen Oktober 2019 und März 2020 8.827 Strafanzeigen wegen Polizeigewalt eingereicht. Doch von all diesen Fällen gibt es bis heute in nur fünf eine Verurteilung wegen Menschenrechtsverletzungen.»
Der Polizist, dessen Geschosse Gustavo Gatica erblinden liessen, lebt in Freiheit und plant, eine private Sicherheitsfirma zu gründen. Das wurmt Gatica – aber, Rachegefühle habe er nicht: „Ich hoffe, dass es bald ein Gerichtsverfahren gibt. Er soll so lange ins Gefängnis, wie es der Richter festlegt. Was er danach macht, ist mir egal.“
Gabriel ist unsere Chance. Ich bin optimistisch, auch wenn es nicht leicht wird für ihn.
Auch Gatica hofft auch eine Reform der Polizei. «Ich glaube, alles muss sich ändern. Die Farben, die sie benutzen. Die Ausbildung. Die gesamte Denkweise, die von einer Generation an die nächste weitergegeben wird: Für Polizisten sind Demonstrierende Feinde, die man zurückdrängen und irgendwie zum Schweigen bringen muss.» Gatica warb im Wahlkampf für Gabriel Boric, nahm sogar einen Spot für seinen Kandidat auf: «Gabriel ist unsere Chance“, sagt er. „Ich bin optimistisch, auch wenn es nicht leicht wird für ihn.»