Chiles Kampf um die Präsidentschaft ist eine historische Richtungswahl zwischen links und rechts. Der deutschstämmige, ultrarechte Jurist José Antonio Kast liegt mit 28 Prozent der Stimmen vorn. Ihm folgt an zweiter Stelle mit knapp 26 Prozent Gabriel Boric, ein linksgerichteter ehemaliger Studentenführer. In einem Monat entscheidet sich in der Stichwahl, wer von den beiden Präsident wird.
Land in der Krise
Das sind turbulente politische Zeiten für Chile. In jedem Fall droht dem Land ein Stillstand. Das ist überraschend, denn noch vor kurzem standen die politischen Zeichen auf Aufbruch.
Zuerst waren es die Massenproteste vor zwei Jahren. Es waren Proteste gegen die Ungleichheit, gegen die Kluft zwischen Arm und Reich. Dann, diesen Sommer, kam die Abstimmung über eine neue Verfassung für Chile. 80 Prozent der Bevölkerung befürworteten, dass ein Gremium eine neue, grüne und soziale Verfassung schreibt. Die aktuelle stammt noch aus der Militärdiktatur.
Alles schien darauf hinzudeuten, dass das System von Diktator Pinochet, der bis 1990 an der Macht war, ausgedient habe. Und jetzt liegt mit dem Ultrarechten Kast ausgerechnet ein Befürworter dieses Systems in Führung. Einer, der das von vielen stark kritisierte neoliberale Modell aus Diktaturzeiten weiterführen will.
Der linke Gegenkandidat Boric steht vor allem für die jungen Chileninnen und Chilenen, die gegen die in ihren Augen ungleiche Wirtschaftspolitik kämpfen. Chile ist das wohlhabendste Land Südamerikas, aber nicht alle können davon profitieren.
Lange führte der Linke
Präsidentschaftskandidat Boric führte vor dem Wahltag die Umfragen mit grossem Abstand an. Nach den Strassenprotesten und der Wahl eines hauptsächlich linksgerichteten Gremiums, welches die Verfassung neu schreibt, rechneten die meisten Analysten mit einem Sieg von Boric.
Doch nun favorisieren die Wählerinnen und Wähler einen ultrarechten Präsidentschaftskandidaten. Und die Konservativen gewannen deutlich im Kongress, Linke und Mitte-Links-Koalitionen verloren sowohl im Ober- als auch im Unterhaus an Boden.
Vom grossen Aufbruch, der in Chile in den letzten Jahren mit der Aussicht auf eine neue Verfassung greifbar schien, ist das Land nun weiter entfernt als vermutet.
Stabilität des Status Quo gewünscht
Veränderungen, ohne wirklich zu wissen, wie diese aussehen werden, haben dazu geführt, dass sich ein grosser Teil der Bevölkerung die Stabilität des Status Quo wünscht, wie sie es der ultrarechte Kast anbietet. Er punktet auch damit, dass er Migranten mit einem Graben an Chiles Grenze aufhalten, und die Armee gegen die rebellischen Indigenen einsetzen will.
Gewinnt Kast, würde er, wie er selbst angekündigt hat, gegen die neue Verfassung kämpfen, die im Moment am Entstehen ist. Sollte Boric in einem Monat gewinnen, hat er als Linker mit einem Bündnis mit den Kommunisten keine grossen politischen Möglichkeiten im konservativen Kongress.
Beide Varianten sind alles andere als ein Aufbruch.