Der linke Gabriel Boric wird mit 35 Jahren jüngster Präsident Chiles. In der Stichwahl setzte er sich deutlich mit 56 Prozent der Stimmen durch. Sein Kontrahent, der ultrarechte José Antonio Kast, erkannte seine Niederlage an. Die Wahl galt aufgrund der grossen Unterschiede zwischen beiden Kandidaten als Weichenstellung, vielen sogar als wichtigste Wahl seit über 30 Jahren.
Boric hat die Wahlen mit dem Versprechen tiefgreifender struktureller Veränderungen gewonnen. Das betonte er auch in seiner Siegesrede: «Wir werden nicht länger zulassen, dass die Armen weiterhin den Preis für die Ungleichheit in Chile zahlen.»
Endgültiger Bruch mit dem Erbe Pinochets
Chile hat das höchste Pro-Kopf-Einkommen in Südamerika, aber nicht alle können davon profitieren. Boric fordert eine stärkere Präsenz des Staates in den Bereichen Gesundheit, Renten und Bildung.
Damit will er endgültig mit dem Erbe der Pinochet-Diktatur (1973 bis 1990) brechen und seinem Wirtschaftsmodell, welches viele für die grosse soziale Ungleichheit in Chile verantwortlich machen. Seit dem Sommer schreibt ein Konvent eine neue Verfassung, die aktuelle stammt noch aus der Pinochet-Diktatur. Deren Abschaffung war eine der zentralen Forderungen der sozialen Proteste von 2019. Boric unterstützt diesen Prozess.
Hohe Stimmbeteiligung half dem Linken
Die Stimmbeteiligung ist ein Grund für den Sieg von Gabriel Boric. Mit fast 56 Prozent ist sie so hoch, wie seit zehn Jahren nicht mehr. Das hat vor allem dem 35-Jährigen geholfen, der in den letzten Wochen mehr Nichtwählerinnen und Nichtwähler ansprechen konnte. Auch, weil der Jurist seine Positionen mässigte und auf die Mitte zuging. Er anerkannte, dass Chile Probleme mit Kriminalität habe und die von ihm angekündigte Steuererhöhung soll nicht so hoch ausfallen.
Boric ist auf Bündnisse angewiesen
Die Hoffnungen und Erwartungen an den neuen Präsidenten sind gross. Einfach wird es nicht für seine Regierung.
Zum einen schränkt eine Pattsituation zwischen rechten und linken Parteien im Kongress die Gestaltungsmacht der neuen Regierung erheblich ein. Das bedeutet, dass Boric die vielen gemässigten Versprechen, die er im Wahlkampf gemacht hat, nicht nur einhalten, sondern diese auch im Dialog mit dem Kongress anwenden muss. Viel wird davon abhängen, wie es ihm gelingen wird, Bündnisse zu schmieden.
Gabriel Boric wird sich die Macht aber nicht nur mit dem Kongress teilen müssen, sondern auch mit den 155 Mitgliedern des Konvents, welche bis nächsten Sommer die neue Verfassung für Chile schreiben.
Gleichgewicht zwischen Ordnung und Veränderung
Dies schränkt den Präsidenten ein. Denn der 35-Jährige wird nicht die Freiheiten haben, die er gerne hätte.
In Chile geht es in den nächsten Jahren vor allem um den Umfang der sozialen Reformen, die bei Protesten und durch die Pandemie gefordert wurden. Boric muss der Forderung nach Veränderung, aber auch der Forderung nach Ordnung gerecht werden. Und dieses Gleichgewicht zu stemmen ist der Schlüssel, welcher Boric von den Wählerinnen und Wählern für den Präsidentenpalast überreicht wurde.