Ende Woche stimmt Chile über eine neue Verfassung ab. Sie soll die bisherige ersetzen, die noch aus den 70er-Jahren stammt – aus der Zeit der Militärdiktatur von Augusto Pinochet. Die Ausgangslage der Abstimmung am Sonntag ist spannungsgeladen. Sie spaltet gar Parteien und Familien, erklärt Sandra Weiss, freie Lateinamerika-Korrespondentin. Wieso polarisiert der Verfassungsentwurf derart?
SRF News: Weshalb wird die neue Verfassung so kontrovers diskutiert?
Sandra Weiss: Die alte chilenische Verfassung ist sehr konservativ und neoliberal geprägt. Der neue Entwurf ist sehr progressistisch. Manche sprechen von der «Millennial-Verfassung».
Es ist ein Sprung von der Vergangenheit in die Zukunft, der aber in der Gegenwart sehr polarisiert.
Es ist sehr oft von Gendern, Ökologie und Umwelt die Rede. Im vorherigen Grundgesetz spielte das praktisch keine Rolle. Es ist ein Sprung von der Vergangenheit in die Zukunft, der aber in der Gegenwart sehr polarisiert.
Was erregt den grössten Anstoss an der neuen Verfassung?
Es gibt mehrere kontroverse Punkte. Zum einen das Thema des Plurinationalismus. Chile wird in der Verfassung als plurinationaler Staat anerkannt. Die indigenen Ethnien bekommen sehr viele Rechte und Autonomierechte, unter anderem auch eine eigene Rechtsprechung. Das weckt bei vielen Chileninnen und Chilenen die Befürchtung vor einem Staat im Staate und vor Abspaltungstendenzen. Das ist nicht unwichtig, weil gerade die Indigenen in Gegenden leben, die wirtschaftlich sehr interessant sind.
Und weitere Kontroversen?
Der zweite kontroverse Punkt ist die Frage der Umwelt. Chiles Wirtschaftsmodell war extraktivistischer Natur. Es ging um die Ausbeutung der Bodenschätze oder der Natur: Kupfer, Lithium, Lachs, Wein, Trauben. Die Kosten wurden externalisiert; Umweltschutz war ein unwichtiges Thema. Neu steht die Natur ganz oben. Sie bekommt eigene Rechte. Das beschneidet Wirtschaftsinteressen. Das dritte Thema ist die Genderfrage. Das Thema ist bei den Millennials sehr wichtig, während die ältere Generation damit nicht so viel anfangen kann.
Wie berechtigt ist diese Kritik an der neuen Verfassung?
Ich gebe mal die Sicht von Experten wieder. Beim Thema Wirtschaft finden die einen, dass die Verfassung dem Staat viel zu viel aufbürdet. Früher war alles privatisiert, von der Bildung und Gesundheit bis zum Wasser. Jetzt soll alles der Staat tragen, was natürlich auch den Aufbau eines entsprechenden Staatsapparates und hohe Kosten mit sich bringt. Der Haushalt wird belastet und das chilenische Wirtschaftsmodell wird komplett umgemodelt.
Einige Experten halten die Verfassung für das kleinere Übel.
Andere Experten sehen das weniger dramatisch. Sie sagen, die Verfassung sei zwar nicht perfekt. Aber um sie umzusetzen, braucht es sowieso einen Haufen Gesetze, die alles im Einzelnen regeln. Sie halten die Verfassung für das kleinere Übel. Sie befürchten bei einer Ablehnung weiter Polarisierung, Unruhen, Proteste, Unregierbarkeit. Das ist für die Wirtschaft mittelfristig vielleicht noch schädlicher als eine suboptimale Verfassung.
Laut Umfragen lehnt die Mehrheit den Entwurf ab. Was wird geschehen, wenn die neue Verfassung abgelehnt wird?
Die Regierung weiss, dass es sehr schwierig wird, auf Grundlage einer so polarisierten Gesellschaft zu regieren – egal, welche Option gewinnt. Präsident Gabriel Boric, selbst sehr progressiver Millennial, stimmt der neuen Verfassung zu. Er hat bereits gesagt, dass es auf jeden Fall Verfassungsreformen geben wird. Aber einfach wird das für ihn nicht werden. Denn dafür muss er Mehrheiten im sehr zersplitterten Kongress finden.
Das Gespräch führte Tobias Bühlmann.