Mit Finnland und wohl bald auch Schweden in der Nato wird die Gruppe der neutralen Länder in Europa immer kleiner. Im Kalten Krieg bildeten sie einen Puffer zwischen dem Westen und der ehemaligen Sowjetunion. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine wächst der Druck auf neutrale Staaten wie die Schweiz, Stellung zu beziehen. Politologe Heinz Gärtner von der Universität Wien hat kürzlich in einem Aufsatz die Neutralität verteidigt.
SRF News: Hat das Konzept Neutralität ausgedient?
Heinz Gärtner: In Kriegszeiten kommen neutrale Staaten immer stark unter Druck, Position für die eine oder andere Seite zu beziehen. Hierbei ist es wichtig, dass sich die neutralen Staaten auf ihre Neutralität besinnen, wobei die Interpretation manchmal Spielraum zulässt. Rechtlich halten sich neutrale Staaten wie Österreich oder die Schweiz an die Haager Konvention und wollen keine Abstriche machen. So ist es nicht überraschend und wahrscheinlich auch sehr rational, was die Schweiz tut.
Der Begriff Neutralität ist mittlerweile etwas unscharf. Wie definieren Sie Neutralität?
Ich habe mit meinen Studierenden etwa 21 Typen von Neutralität eruiert und diskutiert, die sich je nach historischer Phase unterscheiden. Aktuell halte ich eine «engagierte Neutralität» für geeignet, die sich von einer isolationistischen und integralen Neutralität unterscheidet. Engagiert heisst, dass sich ein neutraler Staat so viel wie möglich einmischt und so viel wie notwendig heraushält.
Es gibt keine Werteneutralität. Dennoch sollte sich der neutrale Staat auf seine Prinzipien besinnen.
Das heisst auch: Stellung nehmen zu Genozid, schweren Menschenrechtsverletzungen und Krieg. Es gibt keine Werteneutralität. Dennoch sollte sich der neutrale Staat auf seine Prinzipien besinnen und mit beiden Konfliktparteien in Kontakt bleiben. Das heisst nicht, dass man bestimmte Haltungen von Parteien nicht kritisieren kann.
Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine heisst es im Westen vermehrt, wer abseitsstehe, unterstütze den Aggressor. Was ist an dieser Kritik dran?
Es gibt in jedem Krieg einen Angreifer, obwohl das oftmals nicht so klar definiert ist, weil das Selbstverteidigungsrecht ins Spiel kommt. Aber die neutralen Staaten können nicht von vornherein immer sagen, man unterstütze das Opfer oder den Angegriffenen militärisch, denn dann würde sich die Neutralität erübrigen.
Neutralität ist eine gute Sicherheitsgarantie und wird von Grossmächten respektiert, wenn sie glaubwürdig vertreten wird.
Was muss erfüllt sein, damit ein Staat nicht zum Kriegsgewinnler oder Trittbrettfahrer wird?
Neutrale Staaten müssen erstens glaubwürdig sein, indem sie schon in Friedenszeiten immer wieder klarmachen, dass sie neutral bleiben werden, keinem Militärbündnis beitreten und keine fremden Truppen stationieren und an keinen fremden Kriegen teilnehmen. Sie müssen zweitens nützlich sein, indem sie im Sinne einer engagierten Neutralität diplomatische Initiativen ergreifen und in jeder Hinsicht gute Dienste anbieten.
Inwiefern schützt Neutralität davor, nicht angegriffen zu werden?
Neutralität ist eine gute Sicherheitsgarantie und wird im Allgemeinen von Grossmächten respektiert, wenn sie nützlich ist und glaubwürdig vertreten wird. Es gibt in der Geschichte kaum Fälle von Angriffen auf neutrale Staaten, ausser im Zuge grosser Kriege wie der Erste und der Zweite Weltkrieg, als auch das neutrale Belgien angegriffen wurde, wobei das erste Ziel Frankreich war. Die Schweiz konnte damals ihre Neutralität aufrechterhalten, andere Staaten nicht.
Das Gespräch führte Matthias Kündig.