Das gestrige Schiffsunglück vor der libyschen Küste bestärkt nur Matteo Salvinis Überzeugung: Je mehr Flüchtlinge und Migranten daran gehindert werden, in Nordafrika in seeuntaugliche oder völlig überladene Boote zu steigen, desto weniger Menschen werden im offenen Meer sterben.
Salvini übersieht bei dieser Rechnung aber auch die Kehrseite: Noch nie war die Todesrate der Menschen, welche die gefährliche Fahrt von Libyen Richtung Italien antreten, so hoch. Jeder siebte ertrinkt. Das heisst: Statistisch überleben seit anfangs 2019 zwölf Menschen eines vollbesetzten Schlauchbootes ihre Reise nicht. Eine makabre Rechnung – die aber auch zeigt, wie sehr sich Überzeugungen und Meinungen trennen und wie viele Salvini Recht geben.
Übertritte in die Schweiz
Im Gespräch mit SRF bestätigt der Innenminister: «Wir retten Menschenleben, weil im Endeffekt weniger übers Meer kommen. Wir sparen viel Geld durch weniger kostenintensive Seenotrettungsoperationen und schützen den Europäischen Kontinent.»
Damit meint er auch die Schweiz. Sie kann dank der geringen Ankunftszahlen von Menschen in Süditalien auch rekordtiefe illegale Grenzübertritte an der Südgrenze aufweisen.
Kompetenzen überschritten?
Beim Thema Migration bleibt Salvini knallhart. Gestärkt durch eine neue Fassung des erst kürzlich verabschiedeten Sicherheitsdekrets hat er als Innenminister auch neue Kompetenzen und verbietet gleich einem Schiff der italienischen Küstenwache die Einfahrt in den Hafen von Lampedusa.
Die «Gregoretti» transportierte 135 Migranten, die teilweise auch von Fischern gerettet wurden. Sie dürften erst von Bord, wenn Europa ihre Umverteilung regelt. Fraglich ist, ob Salvini damit wieder einmal juristisch seine Kompetenzen überschreitet – wie schon im Fall des Küstenwachschiffs «Diciotti» letzten Sommer – als er sich vor weiteren Ermittlungen durch die Justiz nur durch seine Immunität schützen konnte.
«Reset-Knopf»
Salvini glaubt sich auch diesmal wieder auf der sicheren Seite: Die Umfragen sprechen weiter für ihn. Koalitionspartner Cinquestelle und Regierungschef Giuseppe Conte treibt der Vize-Premier vor sich hin – nicht nur beim Thema Migration. Die als Protestbewegung entstandenen Cinquestelle riskiert, immer mehr ihre Identität aufzugeben.
Wo Salvini den Takt angibt: beim Weiterbau der Schellbahnstrecke Turin-Lyon, bei neuen Kehrrichtverbrennungsanlagen, der Steuerreform für den Mittelstand, oder anlässlich der Verhandlungen um mehr Autonomie und finanzielle Unabhängigkeit für die von der Lega regierten Regionen in Norditalien. Die politische Agenda richtet sich nach Salvini. Der droht mit dem «Reset-Knopf». Wenn er will, kann er Conte und die Cinque Stelle jederzeit nach Hause schicken und Neuwahlen provozieren.
Ein starker Mann – und das gefällt
Auch das vertraut der Lega-Chef SRF an: «Solange ich meine politischen Überzeugungen in dieser Regierung realisieren kann, mache ich weiter. Wenn ich aber merke, dass mir aus der Koalition ein Nein entgegenschallt, werde ich mit meiner Partei die Schlüsse ziehen. Niemand zwingt uns, in dieser Koalition zu bleiben. Andere Parteien und Politiker fürchten Neuwahlen. Wir nicht!»
Salvini weiss, die Angst vor einem neuen Erdrutschsieg der Lega hält sowohl den Koalitionspartner als auch die gesamte Opposition in Schach. Denn bei vorgezogenen Neuwahlen würden fast alle verlieren – ausser der Lega. Deshalb kann sich Matteo Salvini politisch so fast alles leisten. Er bleibt der starke Mann im Land – was immer mehr Italienern gefällt.