Tote Arbeiter auf den Stadionbaustellen, sklavenähnliche Arbeitsbedingungen, mutmassliche Schmiergeldzahlungen bei der WM-Vergabe – die Liste der Kritikpunkte an der WM in Katar ist lang.
Nun hat die Fussball-WM begonnen, doch die Politik dominiert weiter die Schlagzeilen. Die Fifa kündigte Sanktionen an, wenn Mannschaftskapitäne die «One Love»-Binde auf dem Spielfeld tragen. Im Spiel zwischen England und Iran haben sich die Spieler geweigert, die iranische Hymne zu singen. Und die Deutschen hielten als Protest beim Mannschaftsfoto demonstrativ die Hand vor den Mund.
Ist die WM in Katar die «politischste» und «umstrittenste WM aller Zeiten»? Mämä Sykora, langjähriger Chefredaktor des unabhängigen Fussballmagazins «Zwölf», sieht das etwas differenzierter:
Mit der Annexion der Krim 2014 hat man bewusst UNO-Völkerrecht gebrochen. Die WM wurde dennoch in Russland durchgeführt.
Russland 2018: Die Weltmeisterschaft in Wladimir Putins Russland war sehr ähnlicher Kritik ausgesetzt wie das Turnier in Katar. Einen Monat vor Austragungsbeginn stellte Human Rights Watch fest, dass die WM «während der schlimmsten Menschenrechtskrise in Russland seit der Sowjetzeit» stattfinde. Eingeschränkte Freiheitsrechte, Rassismus, in Gesetze gegossene Homophobie: All das führte zu Boykottaufrufen, die aber anders als in Katar weitgehend verhallten.
Es gab sogar ähnliche Missstände beim Stadionbau, wie verschiedene Medien berichteten. Hinzu kommt: «Mit der Annexion der Krim 2014 hat man bewusst UNO-Völkerrecht gebrochen, und die WM dennoch durchgeführt», so Mämä Sykora.
Brasilien 2014: Die WM in Brasilien wird häufig auch mit einem Wort verbunden: Zwangsumsiedelung. Soziale Institutionen prangerten «systematische Verletzungen des Rechts auf Wohnraum» an. 170'000 Menschen mussten ihre Häuser wegen der WM und der darauffolgenden Olympischen Spiele räumen – menschenrechtswidrig, worauf eine UNO-Berichterstatterin hinwies. Hinzu kommt: Der Grossanlass verschlang Unsummen an Geld, das für Schulen, Unis oder Spitäler hätte verwendet werden können. Hunderttausende im ganzen Land besetzten aus Protest Strassen. «In Südamerika und Afrika hat man Geld ausgegeben, das nicht vorhanden gewesen wäre», sagt auch Sykora.
Südafrika 2010: Die Vuvuzelas sind wieder verstummt. Vor zwölf Jahren hatte Gastgeber Südafrika 4.5 Milliarden Franken in die erste Fussball-WM auf dem afrikanischen Kontinent investiert. Allerdings brachten diese Investitionen den 20 Millionen Armen im Land nichts, schrieb das Schweizerische Arbeitshilfswerk (SAH) im Vorfeld der WM.
Bauarbeiter hätten zu Hungerlöhnen die Stadien gebaut und die Armenviertel seien plattgewalzt worden. Vorwurf an die Fifa: Sie hätte nichts gegen die Menschenrechtsverletzungen getan, obwohl sie absehbar und bestens dokumentiert gewesen seien.
Deutschland 2006: Über der Vergabe der WM 2006 in Deutschland liegt ein dunkler Schatten. Ein DFB-Untersuchungsbericht bestätigte 2021 den Fluss «beträchtlicher Gelder». In dem Report heisst es: «Die bisherigen Erkenntnisse ergeben, dass Fifa-Exekutivmitglieder beziehungsweise ihre Nationalverbände beträchtliche Geldbeträge erhalten haben und so ihr Stimmverhalten massiv beeinflusst wurde.»
Argentinien 1978: Argentinien war Ende der Siebzigerjahre eine brutale Militärdiktatur. Menschen verschwanden spurlos, Oppositionelle wurden gefoltert, aus Flugzeugen ins Meer geworfen. Bis heute ist nicht vollständig geklärt, wie viele Menschen damals starben. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen fielen der Diktatur zwischen 1976 und 1983 rund 30'000 Menschen zum Opfer. Brisant: Direkt neben dem WM-Finalstadion in Buenos Aires, da wo Argentinien vor den Augen des Diktators Jorge Rafael Videla den Pokal gewann, wurden in einem Gebäude während der Diktatur etwa 5000 Menschen gefoltert und ermordet.
Italien 1934: «Italien war mit Abstand das krasseste Beispiel», bilanziert Fussballexperte Sykora. Die dortige WM fand unter Einfluss von Diktator Benito Mussolini statt. Die strategische Ausrichtung war von Beginn an deutlich: Über die Macht des Sports wollte die faschistische Regierung sich in ein gutes Licht rücken.
Dass Italien damals den Titel holte, ist laut verschiedenen Fussball-Historikern kein Zufall gewesen. Der italienische Fussballverband war nämlich allein zuständig für die Schiedsrichterzuteilung. In der K.-o.-Runde wurden mehrere krasse und unerklärliche Fehlentscheidungen jeweils zugunsten der Azzurri getroffen.
Italien wurde im Turnier eindeutig bevorzugt. Ein Beispiel: Im Halbfinale köpfte der schwedische Schiedsrichter Eklind eine Flanke auf einen frei stehenden österreichischen Spieler gleich selber aus dem italienischen Strafraum. Zum Dank durfte er auch das Finale leiten.