Brandbomben und Feuerwerkskörper, ein Bus in Flammen, verletzte Polizisten und Jugendliche, bewaffnet mit Stöcken: Nach der vierten Nacht mit heftigen Ausschreitungen in der nordirischen Hauptstadt Belfast zeigt sich auch der britische Premier Boris Johnson besorgt. Er selbst allerdings hatte den britischen Teil von Irland mit seiner Unterschrift unter den Brexit-Vertrag in diese schwierige Lage gebracht.
Der Brexit – und ein grosses Begräbnis
Dem aktuellen Gewaltausbruch von Jugendlichen liege ein vielschichtiges explosives Gemisch zugrunde, sagt Grossbritannien-Korrespondent Patrik Wülser. Zum einen die Kollateralschäden des Brexits mit der administrativen Grenze mitten in der Irischen See.
Zum anderen das Begräbnis eines alten IRA-Kämpfers im letzten Juni unter Missachtung der Pandemie-Bestimmungen. Rund 1500 Teilnehmende liess man folgenlos gewähren – darunter ranghohe Politikerinnen und Politiker. Eine Anklage gegen die Organisatoren wurde vorige Woche fallengelassen. Für Normalsterbliche sind bei Beisetzungen höchstens 30 Angehörige zugelassen.
«Da ist alles ein bisschen viel in einem politisch aufgeladenen Umfeld, in dem bis vor gut 20 Jahren ein Bürgerkrieg herrschte», so Wülser. Dass ausgerechnet die Jugendlichen auf die Strasse gingen, sei wohl kein Zufall, auch wenn nicht alle das Nordirland-Protokoll im Detail im Kopf hätten. Bei der Wut und Frustration spielten sicher auch – wie vielerorts in Europa – die Beschränkungen der Corona-Massnahmen eine grosse Rolle.
Folgen werden zunehmend spürbar
Die Grenze in der Irischen See, welche eine harte Grenze auf der irischen Insel verhindern soll, führt aktuell zu massiven Lieferengpässen und leeren Regalen in den nordirischen Grossverteilern. Das löst insbesondere bei den Unionisten, den britisch-freundliche Protestanten, Emotionen aus. Eine Grenze im eigenen Land ist für diese Patrioten nicht nachvollziehbar, so Wülser. Umso mehr, als Premier Johnson in den Brexit-Verhandlungen immer erklärte, eine solche Grenze werde es niemals geben.
Johnson rufe nun mit den üblichen Worten eines Politikers dazu auf, die Probleme am Verhandlungstisch und nicht auf der Strasse zu lösen, stellt Korrespondent Wülser fest: «Dabei hat Johnson Nordirland sehenden Auges in dieses politische Minenfeld manövriert, das man jetzt erlebt.»
Johnson hat Nordirland sehenden Auges in dieses politische Minenfeld manövriert.
Aufrufe zum Ende der Gewalt
In Nordirland verurteilten am Donnerstag Politikerinnen und Politiker beider konfessionellen Lager die Ausschreitungen scharf. «Zerstörung, Gewalt und die Androhung von Gewalt sind vollkommen inakzeptabel und nicht zu rechtfertigen», hiess es in einer Erklärung nach einer Sondersitzung des Kabinetts am Donnerstag.
Irlands Aussenminister Simon Coveney forderte im irischen Sender RTE ein Ende der seit Tagen anhaltenden Gewalt zwischen pro-irischen und pro-britischen Gruppierungen, bevor jemand getötet oder schwer verletzt werde. «Das sind Szenen, von denen viele dachten, sie seien Geschichte», erklärte er in Anspielung auf die jahrzehntelangen erbitterten Kämpfe in der britischen Provinz Nordirland.