Aus Sorge um die Sicherheit der Zollbeamten hat Nordirland die Brexit-Kontrolleure vorübergehend von seinen Häfen abgezogen. Grund sei eine «Zunahme unheimlichen und bedrohlichen Verhaltens in den letzten Wochen». Pro-britische Unionisten sollen zu Gewalt gegen die Grenzbeamten aufgerufen haben. Die Journalistin Tessa Szyszkowitz in London sieht einzelne frustrierte Unruhestifter hinter den Aktionen.
SRF News: Für wie explosiv halten Sie die Lage in Nordirland?
Tessa Szyszkowitz: Nordirland wird immer mit dem Adjektiv «explosiv» assoziiert. Der Friede in Nordirland ist so fragil, dass sofort alle Alarmglocken schrillen, sobald es auch nur zu den geringsten Störungen kommt. Deshalb wurden die Kontrolleure vorübergehend abgezogen – als Vorsichtsmassnahme.
Weiss man, von wem der Gewaltaufruf kam?
In Nordirland geht man nicht davon aus, dass es sich um eine organisierte Aktion von paramilitärischen Gruppen handelt. Es dürfte sich eher um frustrierte Einzelkämpfer handeln, die gegen die neue Zollgrenze im irischen Meer kämpfen möchten und die versuchen, ein bisschen Unruhe zu schaffen. Das ist an sich noch nicht völlig klar. Wenn man aber der Polizei genau zuhört, merkt man: Es ist nicht so, dass man vor einem neuen Bürgerkrieg steht.
Halten Sie es für richtig, dass die EU nach einer solchen Drohung gleich das Personal abzieht?
Wir sehen jetzt die Folgen des Brexits zum ersten Mal. Und es sind alle sehr vorsichtig. Die EU hat am Freitag einen ziemlich grossen Fehler gemacht, da ging es um die nordirisch-irische Grenze. Aber die Vorgänge sind für alle immer derart unangenehm, weil man nicht genau weiss, wie fragil die nordirische Situation eigentlich ist.
Ich glaube, es ist gut, wenn die EU die Situation nicht weiter anheizt.
Deshalb hat man in den Brexit-Verhandlungen so viel Zeit darauf verbracht, sich mit Nordirland zu befassen. Ich glaube, es ist gut, wenn die EU die Situation nicht weiter anheizt.
Unabhängig vom aktuellen Streit: Gibt es in Nordirland, 23 Jahre nach dem Friedensabkommen, überhaupt noch ein Potenzial zur Eskalation? Sprich: Genug grosse, gewaltbereite Gruppen auf der pro-irischen und der pro-britischen Seite?
Wir haben in den letzten Jahren immer wieder gesehen, dass es zu Gewalttaten kommen kann. Es gibt eine neue Generation der pro-irischen, gewaltbereiten Gruppe IRA, 2019 wurde eine junge Journalistin ermordet (Anm. d. Red.: Ein Mitglied der «neuen IRA» bekannte sich zu der Tat). Das ist aber im Moment nicht die Gruppe, um die man sich Sorgen machen müsste – deswegen gibt es ja eine grüne Grenze zwischen Nordirland und Irland, um die IRA davon abzuhalten, sich wieder in den Kampf zu werfen.
Diese geheimnisvollen Vorgänge jetzt und die Graffitis, die wir an den Wänden in Belfast und den Hafenstädten gesehen haben, kommen von den Leuten, die die Einheit mit Grossbritannien nicht aufs Spiel gesetzt sehen wollen durch diese neue Zollgrenze. Das ist aber keine harte EU-Aussengrenze. Da geht es darum, ob man gewisse Tierprodukte besser über die Grenzen bringen kann.
Was bedeuten für Sie die aktuellen Spannungen in Nordirland für die Zukunft?
Es ist alles eine Konsequenz des Brexits. Man hat gewusst, dass das passiert. Es ist sozusagen der Fluch der bösen Tat, dass ein nationalistisches Projekt der Engländer diese vier Nationen des Vereinigten Königreichs unter Druck setzt. Die Nordiren und Schotten wollten in der EU bleiben. Aus meiner Sicht geht es weniger darum, dass in Nordirland wieder die Gewalt ausbricht – sondern eher, ob das Vereinigte Königreich ohne Gewalt auseinanderfällt.
Das Gespräch führte Karin Britsch.