Auf Chinas bekanntester E-Commerce-Plattform Taobao herrscht um drei Uhr morgens ein erstaunlich geschäftiges Treiben. Sogenannte Livestreamerinnen und Livestreamer werben dort trotz der frühen Morgenstunde ununterbrochen für Produkte. In Echtzeit.
Doch bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass viele der Online-Verkäuferinnen und Verkäufer mechanisch sprechen und sich roboterhaft bewegen. Denn es sind nicht Menschen, die hier werben, sondern virtuelle Klone, generiert mittels künstlicher Intelligenz.
Günstiger und effizienter
Einige dieser Klone stammen von Payboelf. Das Start-up mit Sitz in der Tech-Metropole Hangzhou im Osten Chinas wächst rasant. Li Ting hat die Firma erst diesen Februar gegründet und betreibt im Auftrag ihrer Kundinnen bereits rund 400 virtuelle Livestreamer: «Für Firmen ist das günstiger und effizienter, wenn sie keine Menschen engagieren müssen. Zudem können virtuelle Streamer rund um die Uhr arbeiten.»
Laut Zahlen des chinesischen Handelsministeriums werden aktuell bereits 18 Prozent aller Online-Käufe in China via Livestream getätigt – Tendenz steigend. Manche Streamerinnen sind regelrechte Superstars mit Millionen von Followern. Sie zu engagieren, kostet die Firmen viel Geld.
Weniger Risiko für Firmen
Hinzu kommt das Risiko, dass die Superstars ihre Follower mit einer unachtsamen Aussage düpieren und einen Sturm der Entrüstung lostreten. Oder, dass sie mit einem Kommentar gewollt oder ungewollt eine rote Linie übertreten. So verschwand letztes Jahr einer der bekanntesten Kosmetik-Livestreamer, Li Jiaqi, für Monate von der Bildfläche. Li Jiaqi, auch bekannt als der Lippenstiftkönig, hatte zuvor online einen Kuchen präsentiert, der einem Militärpanzer ähnelte.
Bilder von einzelnen Panzern gelten in China rasch als Anspielung auf das Tiananmen-Massaker und werden zensuriert. Die blutige Niederschlagung der Demokratie-Proteste von 1989 ist bis heute ein grosses Tabuthema. Ein virtueller Livestreamer ist für chinesische Firmen weniger riskant und leichter kontrollierbar.
Fünf Minuten Videomaterial reichen
Und so ein Klon ist schnell erstellt. Dazu braucht es lediglich ein fünf Minuten langes Video mit einer Sprechprobe von der zu klonenden Person. Es gibt keine offiziellen Zahlen, wie viele virtuelle Livestreamer es zurzeit gibt, aber laut verschiedenen Marktberichten wächst ihr Anteil. Li Ting schätzt diesen mittlerweile auf knapp zehn Prozent.
Auch Jiang Ren hat von den digitalen Avataren gehört und will das auch für ihr Online-Lebensmittelgeschäft ausprobieren: «Ich will mit möglichst wenig Kosten den höchst möglichsten Gewinn erzielen.»
Eintönigkeit bei den Kleidern
Ein digitaler Klon kostet bei Payboelf zwischen 400 und 6000 Franken im Jahr. Je echter der Klon wirkt und je mehr der Klon kann, wie zum Beispiel verschiedene Sprachen sprechen, desto teurer ist er. Bereits im ersten Firmenjahr dürfte das Start-up schon gegen vier Millionen Franken umsetzen.
Aber noch gibt es Grenzen: «Unsere Kunden fragen uns immer wieder, ob die Klone auch die Kleider wechseln, trinken oder essen können», erzählt Li Ting. «Leider können sie das noch nicht.»
Das sei aber nur eine Frage der Zeit. Li Ting und ihr Team arbeiten bereits an der nächsten Generation von Klonen. Bald will das Start-up nebst Livestreamern auch virtuelle Freundinnen, Lehrer und Ärztinnen anbieten.