Die Polizei tauchte beim Chef der Islamistenpartei Ennahda ausgerechnet in der sogenannten Nacht des Schicksals auf, einem der Höhepunkte im Fastenmonat Ramadan. Dann führten sie den Islamistenführer ab. Wie Medien melden, brachten sie ihn in eine Polizeikaserne, die bereits zur Zeit der Diktatur als Gefängnis diente. Weil sich Rachid Ghannouchis Gesundheitszustand verschlechtert hatte, wurde er heute offenbar ins Spital verlegt.
Ghannouchi befindet sich schon lange im Visier der tunesischen Justiz und Polizei. Über ein halbes Dutzend Mal wurde er in den letzten Monaten zur Vernehmung vorgeladen: Es ging um Terrorismus oder Geldwäscherei – stets konnte der Islamistenführer nach den Einvernahmen wieder gehen.
Die Drohung von Ghannouchi
Die Verhaftung in der Nacht des Schicksals soll Folge eines Auftritts von Ghannouchi an einem Treffen der Oppositionsbewegung «Front de Salut» sein. Dabei hatte er vor einem Verbot seiner islamistischen Ennahda gewarnt und gesagt, dann drohe ein Bürgerkrieg.
Rachid Ghannouchi galt seit dem Sturz von Diktator Zine el Abidine Ben Ali vor zwölf Jahren als einer der einflussreichsten Politiker Tunesiens. Seine Partei Ennahda war seit der ersten Wahl nach der Diktatur in allen Regierungen vertreten. Ghannouchi lenkte zuerst die Partei zuerst nur aus dem Hintergrund – als geistlicher Führer.
Präsident Kaïs Saïed will keine Parteien
Erst bei der Parlamentswahl von 2019 trat er erstmals für ein öffentliches Amt an und wurde als Chef der grössten Partei Präsident des Parlaments. In dieser Rolle geriet er schnell in Konflikt mit dem ebenfalls neuen Staatspräsidenten Kaïs Saïed. Als Kaïs Saïed vor rund zwei Jahren die Regierung absetzte, das Parlament suspendierte und alle Macht an sich riss, brach der Konflikt offen aus.
In der konservativen Grundhaltung dürften sich die beiden Politiker ähnlich sein – aber Präsident Saïed lehnt Parteien grundsätzlich ab. Bei den Wahlen für das neue Parlament vor drei Monaten durften nur Kandidaten ohne Parteibindung antreten. Ghannouchi hatte auch darum immer wieder kritisiert, Tunesien sei auf dem Weg zurück zur Diktatur.
Verhaftungswelle bei Oppositionellen
Die Entwicklung der letzten Monate bestätigt diesen Eindruck: Seit Februar hat die tunesische Polizei rund zwei Dutzend mutmassliche Oppositionelle festgenommen. Politikerinnen und Politiker, Journalisten oder Künstlerinnen.
Was ihnen die Justiz genau vorwirft, ist meistens nicht bekannt. Dies ist aufgrund der strengen Anti-Terrorgesetze möglich: Die Justiz redet in der Regel nebulös von einem Komplott gegen die Sicherheit des Staates. Nun hat sie den prominentesten Oppositionellen aufs Korn genommen und alle Versammlungen seiner Partei im ganzen Land verboten.