Polizist wollte der Junge werden. Heute hat er nicht mal einen Schulabschluss. «Der Schulleiter hat mir gesagt, Zigeuner könnten nicht Polizist werden.» Das erzählt er vor der Kamera des regierungskritischen ungarischen Nachrichtenportals Index. Seinen Namen nennt er nicht. Er ist Roma und wohnt in einem Dorf, in Gyöngyöspata. Dort leben 2500 Menschen, 400 von ihnen sind Roma – 400 Menschen, die offenbar weniger wert sind.
In Gyöngyöspata hat man die Roma-Kinder jahrelang von den anderen getrennt. In den Roma-Klassen war der Unterricht schlechter. Dort lernten Siebtklässler den Stoff von Fünftklässlern.
Diskriminierung auf allen Ebenen
Der Junge erinnert sich weiter: Roma-Kinder hätten nicht aufs WC der anderen Kinder gehen dürfen. «Unsere Toilette war widerlich verschmiert, die Spülung kaputt. Einmal wollte ich das WC der anderen Kinder benutzen. Da haben mich die Lehrer angeschrien und nach Hause geschickt.»
Die Roma hätten auch nicht ins Schwimmbad gehen dürfen. Man habe ihnen gesagt, sie könnten die Nicht-Roma-Kinder mit einer Krankheit anstecken.
«Vielleicht wäre ja etwas aus uns geworden», sagt eine junge Romni zu Index. «Aber so haben sie unser ganzes Leben ruiniert.»
Jahrelange ungerechte Behandlung
Das höchste Gericht hat entschieden, dass in Gyöngyöspata Roma jahrelang diskriminiert wurden. Deswegen sollen jetzt 300'000 Euro Entschädigung an insgesamt 60 Familien gehen. Das ist viel Geld für das Dorf.
Bloss: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban will nicht zahlen. Er sagte vor der Presse: «Leute, die zu einer ethnischen Minderheit gehören und nichts tun, sollen Geld bekommen, einfach so? Während ich jeden Tag hart arbeite?»
Orbans Regierung behauptete auch ausländische, jüdische Netzwerke hätten den Roma den Floh mit der Entschädigung ins Ohr gesetzt. Statt Geld will Orban ihnen nun Nachhilfe in Informatik, Fremdsprachen und Ähnlichem geben lassen. Die Roma sind empört.
Bei den Nicht-Roma in Gyöngyöspata hingegen kommen Orbans Vorschläge gut an. «Warum sollten die Roma Geld bekommen?», fragt ein älterer Mann, «die haben ihre Kinder schliesslich nicht richtig erzogen.» Diese Kinder machten nur Krawall, könnten deshalb gar nicht in dieselbe Klasse gehen wie Nicht-Roma-Kinder.
Lehrer klagen anonym über Roma-Kinder
Tatsächlich erzählen Lehrer aus dem ganzen Land anonym in ungarischen Medien, wie schwierig sie es oft hätten mit Roma-Kindern. Aber in Gyöngyöspata hat man nicht zwischen schwierig und einfach, wissbegierig und unwillig unterschieden. Man hat alle Roma-Kinder in einen Topf gesteckt – einfach, weil sie Roma waren.
Das Gericht hat abschliessend entschieden, dass den Roma Geld zusteht. Dass Ungarns Ministerpräsident nicht zahlen will und stattdessen über Roma und Justiz herzieht, macht seinen Gegnern Sorgen. Sie sagen, das sei eine neue Stufe undemokratischen Verhaltens. In Orbans illiberaler Demokratie gälten offenbar neuerdings auch Gerichtsurteile nicht unbedingt. Bis jetzt waren ungarische Gerichte verhältnismässig unabhängig.
Dass Orban sich so verhält, liegt wohl auch daran, dass seine Partei die letzten Wahlen in Städten verloren hat. Mit Hetze gegen Minderheiten und Justiz hofft der Ministerpräsident offenbar, wieder mehr Leute zu begeistern. Es ist gut möglich, dass am Ende die EU das ungarische Gerichtsurteil durchsetzt.
Echo der Zeit, 14.02.2020, 18 Uhr; lin;cukj