Fast zwei Drittel der Deutschen denken laut einer Umfrage, dass der Föderalismus Schuld am schlechten Pandemie-Management sei. Der Demokratieforscher Michael Koss ortet das Problem aber anderswo. Das zentralistische Frankreich zum Beispiel manage die Krise auch nicht besser.
Nicht der Föderalismus sei das Problem, sondern mangelnder Mut der Ministerpräsidenten und -präsidentinnen, ihre föderalen Kompetenzen auch zu nutzen, ist Koss überzeugt. «Es gibt ganz geringe Neigungen, auf Länderebene in Deutschland wirklich Politik zu machen.»
Stundenlange, unergiebige Sitzungen
Deutschland habe den Hang, stets nach einem Konsens zu suchen. Deshalb diese nächtlichen, oft unergiebigen Runden von Länderchefs und Bundeskanzlerin, an denen nach stundenlangen Verhandlungen oft nur minimale Resultate zustande kommen, wie etwa die Öffnung der Coiffeursalons oder die kostenlose Verteilung von FFP2-Masken.
Selbst dort, wo sie es könnten, entschieden die Länder fast nichts alleine.
«Die Länder können im Prinzip die Massnahmen ergreifen, die sie für richtig halten. Sie tun dies aber nicht, und das kann ich im Endeffekt nur als ‹Selbstverzwergung› bezeichnen», sagt der Politologe.
Andererseits habe auch Angela Merkel ihre Kompetenzen nicht wirklich genutzt. Dabei könnte sie einen landesweiten Shutdown durchaus durchsetzen, sind sich die Juristen einig. Der Bundestag könnte dies ohne die Zustimmung der Länder beschliessen. Bislang schielten die Ministerpräsidenten aber auf die Kanzlerin und die Kanzlerin auf die Länder.
Die Länder können im Prinzip die Massnahmen ergreifen, die sie für richtig halten. Sie tun dies aber nicht, und das kann ich im Endeffekt nur als ‹Selbstverzwergung› bezeichnen.
Hinzu kommt: In Deutschland gibt es trotz der Föderalismusreform von 2005 eine vielschichtige Kompetenzverflechtung zwischen Bund und Ländern, die politische Entscheidungen bremst. Im Moment erlebt Deutschland im Grunde nur die Nachteile des Föderalismus, aber nicht die Vorteile. Sprich: Es herrscht einerseits eine Zersplitterung und Vielstimmigkeit. Aber der Vorteil, nämlich massgeschneiderte regionale Lösungen, werden zu wenig ausgenutzt.
Ursprung der Misere im Kaiserreich
Ein historischer Grund für die deutsche Misere sei, dass in Deutschland der Rechtsstaat älter als die Demokratie sei, sagt Politologe Koss. Das Deutsche Kaiserreich, gegründet 1871, sei zwar ein Nationalstaat, ein Rechtsstaat gewesen. «Aber was man eben nicht geschaffen hat oder nur sehr eingeschränkt, ist die Demokratie. Es gab zwar ein allgemeines Wahlrecht im Kaiserreich, aber es gab eben keine Verantwortlichkeit der Regierung.»
Es wird viel zu wenig Politik gemacht. Das ist Verwaltung, die vor sich hin tritt, auf der Stelle tritt.
Das habe Folgen bis heute: «Damit haben sie eine gewisse Status-Quo-Fixierung in der deutschen Verwaltung drin. Die sich, solange ein Gericht nicht irgendetwas anderes will, erst einmal in ihrer eigenen Logik immer gut beraten wähnt, wenn sie genauso weitermacht wie bisher.» In einer Krisensituation wie heute aber funktioniere das nicht.
Das Fazit von Koss: «Es wird viel zu wenig Politik gemacht. Das ist Verwaltung, die vor sich hin tritt, auf der Stelle tritt.» Nicht der Föderalismus sei also das Problem, sondern der Hang zu einem schwerfälligen Konsens, wo er gar nicht verlangt sei, kritisiert der Demokratieforscher – letztlich also mangelnde Übernahme von politischer Verantwortung gerade der Länder. Erst in jüngster Zeit ist da etwas Bewegung zu beobachten.