Swjatoslaw Wakartschuk ist ein Superstar in der ukrainischen Musikszene. Seit über 25 Jahren steht der Mann mit der melancholischen Stimme auf der Bühne. Okean Elsi heisst seine Band. In den Texten geht es meist um Liebe und Herzschmerz.
Politisch sind Wakartschuks Lieder nicht. Er selber aber drängt jetzt in die Politik. Mit seiner neu gegründeten Partei Golos (dt.: Stimme) will er ins Parlament. Was ihn antreibt, erklärte Wakartschuk in einem Radio-Interview: «Unsere Gesellschaft verlangt nach Veränderungen. Und Veränderungen kann man am besten im Parlament erreichen. Deswegen müssen wir da rein.»
Beitritt zu EU und Nato auf dem Programm
Wakartschuk trifft einen Nerv. Innert kürzester Zeit haben sich im ganzen Land Leute gefunden, die seine Partei unterstützen. Zum Beispiel die 35-jährige Natalia Pipa. Sie kandidiert für Golos in einem Wahlkreis der westukrainischen Stadt Lemberg.
Pipa steht im Hof eines Plattenbauviertels, um sie herum einige Dutzend Anwohner. Es ist eine Wahlkampfveranstaltung unter freiem Himmel. Aufs Tapet kommen Probleme in der Nachbarschaft: der Verkehr, der Zustand der Wohnhäuser. Aber auch die grossen politischen Fragen: der Krieg im Osten des Landes, das Verhältnis zu Europa.
Pipa hat auf jede Frage eine Antwort. Sie kennt die Probleme dieses Wohnviertels gut. Sie hat sich jahrelang als Aktivistin für ein lebenswertes Quartier eingesetzt. Pipa hat darüber hinaus eine klare Vorstellung, in welche Richtung sich die Ukraine entwickeln soll: «Ich bin für einen Beitritt der Ukraine zur EU und auch zur Nato. Wir brauchen eine Liberalisierung der Wirtschaft und eine Justizreform. Das sind die wichtigsten Punkte.»
Sammelbecken für progressive Prowestler
Dieses feste politische Koordinatensystem teilt Pipa mit Rocksänger Wakartschuk – und mit allen anderen Mitgliedern von Golos. Die Partei ist ein Sammelbecken für progressive und prowestliche Leute geworden. Leute, die dem neuen Präsidenten Wolodimir Selenski nicht trauen, weil sie ihn für einen Populisten halten. Selenskis Wahl hat viele wachgerüttelt.
Selenskis Programm wirkt wie eine grosse Zaubershow
Pipa sagt: «Wir sind in einem Schockzustand. Die Leute haben Selenski gewählt, weil sie ihn aus dem Fernsehen kennen. Aber er hat keine politische Erfahrung, er hat keine Ideen und sein Programm wirkt wie eine grosse Zaubershow.» Tatsächlich hat der Präsident viel versprochen, was er kaum wird halten können: etwa das «Ende der Armut».
Kandidatin Pipa befürchtet zudem, dass Selenski und seine Leute im Parlament mit der prorussischen Opposition zusammenspannen könnten. Der Staatschef hat sich bisher zwar zum West-Kurs bekannt, aber eher nur halbherzig. Umso wichtiger, sagt Pipa, dass die prowestliche Partei Golos stark vertreten sei im Parlament.
Der Musiker Wakartschuk soll nun also dem ehemaligen Komiker und jetzigen Präsidenten Selenski auf die Finger schauen. Hat er das Zeug dazu? Pipa ist davon überzeugt. Wakartschuk sei – im Gegensatz zu Selenski – immer schon ein politischer Mensch gewesen.
Das stimmt. Der studierte Physiker hatte sich schon 2004 für die sogenannte Orangene Revolution engagiert; 2013 trat Wakartschuk mit seiner Band auf dem Maidan-Platz auf, um erneut einen Volksaufstand zu unterstützen. Die Demonstrantinnen und Demonstranten sangen damals begeistert mit. Ob die Menschen im Land nun Wakartschuk und seiner Partei auch an der Urne ihre Stimme geben werden, muss sich erst zeigen.