Ab sofort dürfen sich Kroatinnen und Kroaten visafrei in der Schweiz niederlassen und hier arbeiten. Genaugenommen: Sie dürfen es wieder. Denn Anfang 2022 wurde die Personenfreizügigkeit mit Kroatien ein erstes Mal eingeführt. Aber weil damals so viele in die Schweiz kamen, zog der Bundesrat die Notbremse. Er aktivierte die Ventilklausel und legte die Personenfreizügigkeit mit Kroatien wieder auf Eis.
Jetzt startet der zweite Versuch. Jahrelang hat die kroatische Regierung dafür gekämpft. Doch jetzt, wo es so weit ist, mögen sich viele nicht mehr freuen in Kroatien.
Arbeitskräftemangel in Kroatien
Demografie-Professor Stjepan Šterc ist Berater des neu geschaffenen Ministeriums für Demografie und Migration. Er sagt, das kroatische Volk sei bedroht durch die enorme Auswanderung der letzten Jahre: «Wir haben jetzt einen Arbeitskräftemangel in Kroatien. Diese neue Visafreiheit ist gut für die Schweiz, aber nicht für Kroatien». Und die linksgrüne Oppositionspolitikerin Sandra Bencic sorgt sich um die Zukunft der Sozialwerke angesichts der drastischen Abwanderung: «Ich habe wirklich Angst, dass unser Sozialsystem zusammenbricht. Das Gesundheitssystem, die Schulen und die Altersversicherung werden nicht mehr funktionieren in etwa 20 bis 25 Jahren.»
Seit 1991 ist die Einwohnerzahl des kleinen Landes um fast 20 Prozent zurückgegangen, von 4.8 auf 3.9 Millionen. Doch warum wandern immer noch so viele Kroatinnen und Kroaten aus, obwohl es an Arbeitskräften mangelt? Die Sozialforscherin Dunja Potočnik hat die Gründe in Auftrag der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung erforscht. Ihr Fazit: Die drei wichtigsten Auswanderungsgründe in Kroatien (Push-Faktoren) sind: die instabile politische Situation, ein schlecht funktionierender Arbeitsmarkt und das Gefühl von Ungerechtigkeit und Korruption. Die drei wichtigsten Gründe in den Gastländern (Pull-Faktoren) sind hohe Löhne, bessere berufliche Entwicklungs-Möglichkeiten und ein besserer Lebensstandard.
Dramatischer Einwohnerschwund
Angesichts des dramatischen Einwohnerschwundes wirbt Kroatien heute im grossen Stil Gastarbeiter an. Die zahlenmässig grössten Gruppen kommen aus den Nachbarstaaten Bosnien und Serbien. Doch bereits an dritter Stelle stehen Gastarbeiter aus Nepal. Auch Indien, die Philippinen und Bangladesch sind unter den zehn wichtigsten Einwanderernationen. Das verändert das Gesicht des Landes. In Zagreb gibt es jetzt einen nepalesischen Verein, Geschäfte mit asiatischen Lebensmitteln und kürzlich wurde eine hinduistische Gebetsstätte eröffnet.
Eine neue Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigte, dass nur 22 Prozent der jungen Menschen in Kroatien nicht die Absicht haben, das Land zu verlassen. Das bedeutet, dass 78 Prozent glauben, ihr Leben könnte anderswo besser sein. Vor drei Jahren sagte Demograph Stjepan Šterc zu SRF: «Wenn ich meine Studentinnen und Studenten jeweils frage, in welches Land sie am ehesten auswandern würden, dann steht die Schweiz immer an erster Stelle. Und zwar wegen der guten Organisation, Sicherheit und Rechtsstaat. Gut möglich also, dass die Schweiz im neuen Jahr erneut eine starke Zuwanderung aus Kroatien erleben wird.