Aus den Augen, aus dem Sinn? Die Migrationszahlen nehmen seit dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 ab. Wurden damals 39'000 Asylgesuche in der Schweiz gestellt, rechnet das Staatssekretariat für Migration (SEM) im laufenden Jahr mit 15'000. Die nackten Zahlen könnten zu einem einfachen Schluss verleiten: Die Festung Europa steht.
Weit gefehlt, sagt Maghreb-Experte Beat Stauffer: Der Migrationsdruck aus dem Süden werde anhalten. «Viele Menschen aus den Maghreb-Ländern haben sich in den Kopf gesetzt, nach Europa zu kommen. Sie sehen ihre Zukunft hier.» Bei denen, die es tatsächlich versuchen, handle es sich fast ausschliesslich um Arbeitsmigranten. Die in Europa kaum je Asyl erhalten.
Der Journalist gehört zu den besten Maghreb-Kennern im deutschsprachigen Raum. In seinem neuen Buch «Maghreb, Migration und Mittelmeer» plädiert er für eine grundlegende Neuorientierung in der europäischen Migrationspolitik.
Denn eine vollkommene Öffnung der Grenzen könne genau so wenig eine Lösung sein wie eine rigide Abschottungspolitik, wie sie derzeit Italien praktiziert.
Europa habe ein «legitimes Recht auf Selbstschutz», sagt Stauffer: «In den nächsten Jahren kommen wir nicht darum herum, die Grenzen streng zu kontrollieren und irreguläre Migration einzudämmen.» Doch neue Mauern seien der falsche Weg – es brauche neue Tore: «Also Möglichkeiten der legalen Migration, Ausbildungsplätze, Stipendien und vieles mehr.»
Investieren statt Ausschaffen
Trotzdem: Der Traum von Europa wird für die überwältigende Mehrheit der Maghrebiner ein Traum bleiben. Langfristig gibt es für Stauffer nur eine Lösung, um den Migrationsdruck zu lindern: «Wir müssen die Maghreb-Staaten dabei unterstützen, den Massen von frustrierten und schlecht ausgebildeten Menschen eine Perspektive zu bieten.»
Konkret: Milliardenschwere Direktinvestitionen für Aufbauprojekte, insbesondere in das marode Berufsbildungswesen: «Relativ schlecht qualifizierte junge Menschen müssen die Möglichkeit erhalten, einen Beruf erlernen zu können», sagt Stauffer.
Mit Nothilfe für abgewiesene Asylbewerber und teuren Rückführungen geben wir sehr viel Geld aus, das produktiv investiert werden könnte.
Gerade die Schweiz sei mit ihrem weltweit beachteten dualen Berufsbildungssystem prädestiniert dafür, Aufbauhilfe zu leisten. Die Jugend des Maghreb müsse überzeugt werden, dass sie in ihren Heimatstaaten eine Perspektive habe: «Es braucht eine Mentalitätsänderung.»
Ein Migrationspakt im Interesse aller
Solche Projekte brauchen Zeit, und vor allem Geld. Das bedeutet auch: Die europäischen Bürger müssen in die Tasche greifen. Politischer Widerstand ist vorprogrammiert. Doch Stauffer glaubt, dass auch Konservative von einer Neuorientierung der europäischen Migrationspolitik überzeugt werden können: «Mit Nothilfe für abgewiesene Asylbewerber und teuren Rückführungen geben wir sehr viel Geld aus, das produktiv investiert werden könnte.»
Stauffer bezeichnet die Eindämmung der irregulären Migration als Schicksalsfrage für Europa. Angesichts der aktuellen Handlungsunfähigkeit der Staaten sind Zweifel daran angebracht, ob sich diese je auf einen gemeinsamen Nenner in Migrationspolitik einigen können.
Das räumt auch Stauffer ein. Aber: «Wir müssen eine konstruktive Lösung aushandeln, die Europa und den Herkunftsländern der Migranten hilft – und gleichzeitig ihr Leiden stoppt.»