Weiterhin versuchen viele Menschen, von Nordafrika aus via Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Die noch tätigen Rettungsschiffe sind überfüllt, so auch die «Ocean Viking» der Hilfsorganisation SOS Méditeranée. Thomas Bischoff ist Präsident des Schweizer Teils dieser Organisation und berichtet über die aktuelle Lage.
SRF News: Über 350 Personen sind aktuell an Bord der «Ocean Viking». Wie geht es ihnen?
Thomas Bischoff: Im Moment geht es ihnen gut. Sie sind froh, vor dem Ertrinken gerettet worden zu sein. Sie werden nun erstmals medizinisch untersucht und erhalten zu essen.
Dass sich der ganze europäische Kontinent weigert, sich um dieses Problem zu kümmern, ist nicht verständlich.
Nachrichtenagenturen berichten, es habe ernsthafte Sicherheitsprobleme an Bord gegeben. Ist die Stimmung wegen der Unsicherheit zusätzlich angespannt?
Was Sie ansprechen, ist auf dem Schiff «Open Arms» passiert, nicht auf unserem Schiff. Ein Teil der Flüchtlinge konnte an Land gehen, ein anderer musste auf dem Schiff bleiben. Manche Menschen warten schon seit zehn Tagen.
Weder Italien noch Malta lassen die beiden Schiffe anlegen. Was wollen Sie mit den über 350 Menschen tun?
Die Frage ist nicht, was wir mit ihnen tun wollen, sondern was Europa mit diesen Leuten tun will. Es sind Menschen, die vor dem Ertrinken gerettet wurden. Nebenbei: Wenn in vier Tagen so viele Leute gerettet wurden, kann man sich vorstellen, welch ein Drama sich vorher abgespielt haben könnte. Die Zahl von 575 offiziell Ertrunkenen in diesem Jahr ist wahrscheinlich unrealistisch, es sind wohl weit mehr.
Wir haben die Seenotrettungszentralen gebeten, uns einen sicheren Hafen anzuweisen, wie gewöhnlich.
Wir von SOS Méditerranée führen zurzeit den normalen Ablauf durch. Wir haben die Seenotrettungszentralen gebeten, uns einen sicheren Hafen anzuweisen, wie gewöhnlich. Wir warten auf eine Antwort.
Haben solche Rettungsaktionen einen Sinn, solange sich die EU nicht darauf geeinigt hat, wie sie die Flüchtlinge verteilen will?
Ich weiss nicht, wie es für Sie ist, aber wenn jemand am Ertrinken ist, dann hat es sicher einen Sinn, ihn aus dem Wasser zu holen.
Haben Sie Verständnis für die Länder, die ihre Häfen für Flüchtlinge schliessen?
Dass sich Italien und Malta weigern, die ganze Last dieses Problems allein zu tragen, ist verständlich. Aber dass sich der ganze europäische Kontinent weigert, sich um dieses Problem zu kümmern, ist nicht verständlich. Es müssen Abläufe gefunden werden, die diese Aufgabe lösen helfen. Es geht nicht um irgendwelche ökonomischen Überlegungen, sondern um Menschenleben.
Ist ein Hafen in Nordafrika eine Option?
Wenn Sie von Nordafrika sprechen, an welchen Ort denken Sie konkret? Für unser Schiff sind es die Seenotrettungszentralen, die entscheiden. Die Menschen in der Nacht auf Dienstag wurden im Gebiet der libyschen Seenotrettung gerettet. Diese Zentrale wurde angefragt, uns einen sicheren Hafen anzugeben. Sie gaben uns Tripolis an, doch kann Tripolis zurzeit nicht als sicherer Hafen angesehen werden.
Was sind die Kriterien für einen sicheren Hafen?
Wenn gewiss ist, dass die Leute dort ihres Lebens sicher sind, dass sie auf eine menschenwürdige Art behandelt und medizinisch untesucht werden. Tripolis ist keine Option.
Italien will keine Flüchtlinge an Land lassen. Die übrigen EU-Staaten wiederum sind in dieser Frage uneins. Wie können Sie gewährleisten, dass Ihre wiederholten Rettungsaktionen gut ausgehen?
Wir können das nicht gewährleisten. Wir haben aber das Vertrauen, dass in dieser humanitären Frage die Vernunft gewinnen wird. Es muss für diese ganze Problematik eine Lösung gefunden werden. Einfach den Kopf in den Sand zu stecken ist keine Lösung.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.