Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts schlug ein wie eine Bombe: Teile des EU-Rechts seien nicht vereinbar mit der Verfassung des souveränen Staates Polen. Nun ist gar von «Polexit» die Rede, denn ein EU-Austritt Polens sei unumgänglich, falls das Urteil zur Anwendung kommt. Dabei ist Polen nicht das erste Land, das EU-Recht infrage stellt. Der Europarechtler Martin Nettesheim erklärt, warum der Fall Polens eine andere Dimension hat.
SRF News: Stellt das Urteil eine neue Eskalationsstufe dar?
Martin Nettesheim: Es gab schon in der Vergangenheit immer wieder den Vorwurf, dass europäische Organe ihre Kompetenzen aus den europäischen Verträgen überschritten hätten. Das hat Gerichte in Dänemark, Tschechien und letztes Jahr auch das deutsche Bundesverfassungsgericht dazu bewogen, den «Ultra-vires-Vorwurf» («jenseits der Befugnisse) zu erheben. Also deutlich zu machen, dass Entscheidungen über die Grenzen des vertraglich Zulässigen hinausgehen.
Im Fall von Polen richtet sich der Angriff aber gegen die vertraglichen Grundlagen als solche. Der Vorwurf geht dahin, dass der EU-Vertrag in Teilen gegen die polnische Verfassung verstosse und unanwendbar sei. Der Entscheid stellt die Tiefenstruktur der EU infrage. Das stellt eine neue Eskalationsstufe dar.
Deshalb gibt es auch Stimmen, die besagen: Wenn das Gesetz zur Anwendung kommt, muss Polen aus der EU austreten. Teilen Sie diese Einschätzung?
Wenn ein Staat die vertraglichen Grundlagen infrage stellt, denen er beim EU-Beitritt zugestimmt hat, wirft das die Frage auf, wie er seine Mitgliedschaft begreift. Im EU-Vertragsrecht ist für diesen Fall nichts vorgesehen. Polen könnte natürlich wie das Vereinigte Königreich selbst austreten – aus nachvollziehbaren Gründen will es das aber nicht. Die Vorteile überwiegen eindeutig die Nachteile, die Polen als Nicht-Mitgliedstaat der EU erleiden würde.
Letztlich ist es ein politischer Streit. Gerichte können hier keine richtige Lösung herbeijudizieren.
Die anderen 26 Mitgliedstaaten haben nach dem geschriebenen Vertragsrecht keine Möglichkeit einen Staat, der die vertraglichen Grundlagen infrage stellt, rauszuschmeissen.
Es ist also ein langjähriger Rechtsstreit zu erwarten, wenn das Urteil zur Anwendung kommt, Polen aber trotzdem nicht aus der EU austreten will?
Letztlich ist es ein politischer Streit. Gerichte können hier keine richtige Lösung herbeijudizieren. Der Fall reicht tief in die Vertragsbeziehungen der Mitgliedstaaten der EU hinein. Der Fall ist rechtlich nicht geregelt – man muss sich politisch einigen.
Der Vertrag von Lissabon ist eine Art Verfassung der EU. Warum gibt darin keinen Artikel, der klar festlegt, dass EU-Recht vor nationalem Recht steht?
Das ist ein Dogma, das der EuGH in den frühen 1960er-Jahren rechtsfortbildend entwickelt hat: Wenn sich jeder Mitgliedstaat aussuchen kann, welche Teile des EU-Rechts er beachtet und welche nicht, wird die europäische Integration nicht funktionieren. Das ist von seiner inneren Logik her klar. Deswegen sah man lange keine Notwendigkeit, das auch explizit in den Vertrag zu schreiben.
Bei den Verhandlungen über den Verfassungsvertrag von 2004 wurde vorgesehen, einen solchen Artikel festzulegen. Nach deren Scheitern wurde er aber wieder entfernt. Zunächst, weil dies eine starke verfassungsrechtlich-föderale Qualität hätte. Zum anderen, weil die Mitgliedstaaten in begrenzten Randbereichen den Vorrang ihres Verfassungsrechts geltend machen. Mit einer solchen offenen Streitlage kann man gut leben, wenn man sie schlummern lässt und vernünftig damit umgeht.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.