In Atlanta, Georgia, ist erneut ein Schwarzer bei einem Polizeieinsatz getötet worden. Der Fall intensiviert die Debatte um Polizeigewalt in den USA. «Defund the Police» – so lautet denn auch eine Forderung, die immer lauter zu hören ist. Wie sinnvoll wäre das? Der Kriminologe Joachim Kersten von der Deutschen Hochschule für Polizei findet, daran führe kein Weg vorbei.
SRF News: «Defund the Police» heisst so viel wie «der Polizei die finanziellen Mittel wegnehmen» und ist eine zentrale Forderung der Demonstrierenden. Das Geld soll anders investiert werden. Wie beurteilen Sie diese Forderung?
Joachim Kersten: Der Hintergrund ist, dass in den USA die Polizei sieben Tage die Woche Aufgaben wahrnimmt, die eigentlich von anderen sozialen Dienstleistern erbracht werden müssten. Dazu kommt, dass ein Fünftel der Personen, die bei der Polizei arbeiten, frühere Soldaten im Irak und in Afghanistan waren.
Sie haben nicht gelernt, mit Alltagsproblemen umzugehen. Und verschärfend kommt dazu, dass es oft Weisse sind und im Auslandseinsatz Menschen mit anderer Hautfarbe als gefährlich wahrgenommen haben. Insofern sind die nun besonders ungeeignet für Polizeiaufgaben.
Das heisst, der Ansatz «Defund the Police» ist Ihrer Meinung nach richtig?
Wenn der Druck sich verstärkt, auch aufgrund des letzten Vorfalls in Atlanta, wird kein Weg daran vorbeiführen.
Die Unfähigkeit grosser amerikanischer Polizeiorganisationen hat sich in den letzten Jahren drastisch dargestellt.
Dies, weil sich die Unfähigkeit grosser amerikanischer Polizeiorganisationen in den letzten Jahren drastisch dargestellt hat. Praktisch alle Versuche, die Polizei zu reformieren, sind gescheitert.
Was für Reformen sind denn überhaupt möglich mit dem bestehenden Personal? Oder braucht es völlig neue Leute, die ganz anders denken?
Es gibt Erfahrungen damit, was passiert, wenn die Polizei aufgelöst wird. In Camden, New Jersey, hat man dies gemacht und befürchtet, die Kriminalität würde steigen. Genau das Gegenteil war der Fall. Alle müssen sich dann wieder bewerben. Den Polizisten, der für den Tod von George Floyd verantwortlich ist und vorher schon 17 Beschwerdeverfahren hatte, würde man sicherlich nicht noch einmal einstellen.
Aber ist das nicht auch gefährlich und illusorisch? Irgendwie muss ja der Betrieb auch funktionieren.
Gerade jetzt helfen Polizisten und Polizistinnen Kindern, retten Leute aus brenzligen Situationen, beschützen Frauen vor prügelnden Ehemännern und regeln Verkehrsunfälle. Die Vorstellung, dass man alle nach Hause schicken kann, ist illusorisch. Aber die Polizei in den USA kann nicht so weitermachen – diese Erkenntnis erreicht immer mehr Leute.
Die Vorstellung, dass man alle nach Hause schicken kann, ist illusorisch.
Es gibt Untersuchungen aus Grossbritannien, die zeigen, dass die Menschen, die die Polizei am meisten brauchen, am wenigsten von den Dienstleistungen profitieren. Dies gilt in den USA, insbesondere für Afroamerikaner. Die Wahrnehmung, dass weisse Polizisten Schwarze erschiessen, bildet nun eine Kette von Ereignissen. Und diese Kette besteht in den USA schon lange.
Eine wichtige Rolle spielen die Polizeigewerkschaften. An denen führt kein Weg vorbei?
Die amerikanischen Polizeigewerkschaften sind für Reformen der Polizeiorganisation das, was die Alpen für südliche Strömungen in Europa sind – die knallen dagegen und es passiert nichts. Die Gewerkschaften verhindern mit aller Macht Massnahmen gegen Polizisten, die über die Stränge schlagen. Die Vorstellung, man könne mit Disziplinarmassnahmen die Polizei im Inneren ändern, hat sich als illusorisch erwiesen.
Das Gespräch führte Judith Huber.