Eigentlich verkauft Ricardo Roriz in seinem Laden an der Copacabana Militärkleidung. Doch in diesen Tagen geht ein anderes Produkt besonders gut: T-Shirts mit dem Gesicht von Jair Bolsonaro. Der rechtsextreme Präsidentschaftskandidat hat es geschafft, zwei Gefühle der Brasilianer zu bündeln: Wut auf die Politik und Wunsch nach Ordnung.
«Seine grosse Stärke ist, dass er Offizier war und einer militärischen Doktrin folgt. Das positioniert ihn Lichtjahre vor allen anderen Kandidaten in Sachen Kriminalitätsbekämpfung. Er hat den Respekt des Militärs und der Polizei», sagt Roriz. Früher wählte er Lula. Jetzt hat er sich das Gesicht von Bolsonaro aufs Bein tätowiert.
Mehr Todesopfer als in Syrien
Dass Bolsonaro Folterer aus der Militärdiktatur verehrt, dass er schon mehrfach wegen Hassreden zu Geldstrafen verurteilt wurde, dass er in 30 Jahren im Parlament kaum auffiel und nur wenige Gesetzesprojekte einbrachte: Das alles spielt für seine Anhänger keine Rolle. Sie wollen eins: Einen radikalen Wandel.
Seit fünf Jahren steckt Brasilien in einer Wirtschaftskrise. Die Kriminalität im Lande explodiert. Mehr als 60'000 Menschen sind im letzten Jahr eines gewaltsamen Todes gestorben, mehr als in Syrien. Grosse Teile der Bevölkerung wünschen sich Sicherheit um jeden Preis, sie sind mit dem Satz «nur ein toter Bandit ist ein guter Bandit» einverstanden.
Bringen Sie doch 100 schwule Paare auf eine einsame Insel und schauen Sie nach 50 Jahren vorbei, welche Zivilisation es dort gibt!
Alles deutet darauf hin, dass Jair Bolsonaro am Sonntag die erste Runde der Wahlen für sich entscheiden wird – ohne eine absolute Mehrheit zu erreichen. Umfragen zufolge könnte es am 28. Oktober dann eine Stichwahl geben – zwischen dem Kandidat der Rechten und Fernando Haddad von der Arbeiterpartei.
Haddad ist als Ersatzkandidat für Ex-Präsident Lula Inácio da Silva angetreten, der nach einem umstrittenen Urteil im Gefängnis sitzt. Bis zu zehn Punkte Vorsprung geben die Umfragen Bolsonaro gegenüber Haddad in der ersten Runde. Für die Stichwahl prophezeien sie ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Über die anderen Kandidaten, die sich ebenfalls um die Präsidentschaft bewerben, spricht kaum mehr jemand – zu weit liegen sie zurück.
Bolsonaro: «Wir sitzen doch alle in einem Boot!»
Doch wer in Brasilien glaubt schon an Umfragen? Zum einen gibt es nach wie vor viele Unentschiedene, die das Blatt am Sonntag wenden könnten. Vermutlich eher zugunsten von Bolsonaro als von Haddad. Denn nach den Korruptionsskandalen der letzten Jahre sitzt der Hass auf die Arbeiterpartei so tief, dass viele Brasilianer sich lieber die Hand abhacken würden, als Haddad zu wählen.
Zudem gab sich Bolsonaro in den letzten Tagen handzahm wie nie zuvor. Er versuchte, in Youtube-Videos alle Vorwürfe in Sachen Rassismus oder Frauenfeindlichkeit zu entkräften und versprach: «Wir sitzen doch alle in einem Boot!»
Unterstützung von Evangelikalen
Dazu kommt, dass mächtige evangelikale Pastoren in dieser Woche nochmals kräftig die Wahltrommel für Bolsonaro gerührt haben, darunter Pastor Silas Malafaia. Bolsonaro und Malafaia sind ganz auf einer Linie. Homoehe oder Gender-Erziehung an den Schulen kommen für beide nicht in Frage.
Der Pastor nennt sich selbst «Public Enemy Nummer 1» der brasilianischen Homosexuellen: «Bringen Sie doch 100 schwule Paare auf eine einsame Insel und schauen Sie nach 50 Jahren vorbei, welche Zivilisation es dort gibt!» Gegen eine verstärkte Militarisierung des Landes, wie sie Bolsonaro vorschlägt, hat der Pastor nicht einzuwenden, man könne «ja nicht mit Blumen werfen, wenn Kriminelle schweres Geschütz auffahren.» Der Pfingstkirchenverbund, dem der ebenso charismatische wie umstrittene Pastor angehört, hat in Brasilien geschätzte 22 Millionen Mitglieder.
Wahlkampf vom Krankenbett
Nach einer Messerattacke Anfang September musste Jair Bolsonaro das Bett hüten – zunächst im Spital, dann Zuhause. Während die anderen Kandidaten durchs Land tourten, Fernsehspots drehten, Interviews gaben, trat Bolsonaro nicht vor die Tür. Er verlegte seinen Wahlkampf ins Internet und veröffentlichte regelmässig Youtube-Videos. Und doch drehte sich in den letzten Wochen alles um ihn, auch auf der Strasse. Es gab massive Protestmärsche unter dem Motto #elenão, er nicht. Seine Befürworter riefen «Ele sim!» und stellten sich hinter ihn.
Jair Bolsonaro hat bereits angekündigt, das Wahlergebnis nur zu akzeptieren, wenn er gewinnt. Das stösst bei seinen Anhängern nicht auf Kritik; im Gegenteil: Diese sind schon jetzt davon überzeugt, dass es Wahlbetrug an den Urnen geben wird. Kritische Medienberichte über den Kandidaten stempeln sie als Fake News ab. Brasilien stimmt am Sonntag nicht nur über Kandidaten ab – es geht auch um Werte und Institutionen.