Joe Biden ist 76. Sein Alter ist Fluch und Segen zugleich. Segen, weil er nach fast 45 Jahren in politischen Ämtern in Washington Erfahrung geltend machen kann wie kein anderer. Er war 36 Jahre Senator und acht Jahre lang Vizepräsident. Das kann ein Vorteil sein.
Aber spätestens die Wahl von Donald Trump hat gezeigt: auch ein Outsider ohne politische Erfahrung kann es ins Weisse Haus schaffen. Und die Etikette «Washingtoner Insider» ist eine Hypothek. Die Politklasse aus der Hauptstadt hat im Land tiefe Zustimmungsraten.
Angreifbar für die Parteilinke
Der Fluch: Wer über 40 Jahre politisiert, hat auch Entscheide getroffen, für die es aus heutiger Sicht parteiintern Kritik hagelt. Zwei Beispiele: Biden unterstützte die harte Gangart im «Krieg gegen Drogen» (1980/90er-Jahre) und stimmte für den Irak-Krieg (2003).
Die heute umstrittenen Entscheide seiner langen Karriere werden ihn in den nächsten Monaten verfolgen. Angreifbar wird er für die Parteilinke auch, weil er sehr gut bezahlte Vorträge für «Corporate America» gehalten hat – und von dort Wahlkampfgelder bekommt. Es besteht ein gewisses Risiko, dass Biden die Hillary Clinton von 2020 werden könnte.
Sehr beliebt, aber bei Jungen?
Onkel Joe, wie ihn viele nennen, ist sehr beliebt bei den Demokraten. Und auch Republikaner sehen ihn nicht unbedingt als Erzfeind. Er hat ein Image, über Parteigrenzen hinweg Kompromisse zu suchen. Seine hemdsärmelige Art hilft ihm dabei. Das alles gepaart mit seiner Bekanntheit lässt ihn in Umfragen im Moment sehr gut abschneiden. Beliebt ist er vor allem bei älteren Wählern, die bei den Vorwahlen zuverlässig an die Urnen gehen.
Das spricht alles für Onkel Joe: Aber werden die «Neffen» ihn wählen? Biden ist doppelt so alt wie sein jüngster Konkurrent Peter Buttigieg. Wenn dieser so alt ist wie Biden heute, werden wir das Jahr 2048 schreiben! Die Zeiten ändern sich. Die Demokraten rücken nach links, die Partei wird jünger und diverser. Die unter 40-Jährigen werden 2020 das grösste Wählersegment sein. Ob sie Biden in Scharen hinterherlaufen? Im 76-Jährigen jemanden sehen, der ihre Zukunft prägen kann? Man darf es zumindest bezweifeln.
Polit-Profi – aber wie stehts mit Euphorie?
Biden ist zweifellos ein absoluter Polit-Profi und qualifiziert für das Amt des Präsidenten. Und es ist nicht zu erwarten, dass er inhaltlich straucheln wird, wenn er seine Politik erklären muss.
Aber der Blick in die Vergangenheit zeigt: die Demokraten waren meist dann erfolgreich, wenn sie einen jungen, erfrischenden und neuen Kandidaten nominierten. Einen, der auch dank charismatischer Persönlichkeit die Menschen erreichte und Euphorie auslösen konnte. Beispiel Bill Clinton oder Barack Obama. Demgegenüber scheiterten die Favoriten des Partei-Establishments nicht selten kläglich. Beispiel Hillary Clinton, John Kerry, Al Gore.
Charisma hat Biden zweifellos. Und dass er eine Euphorie entfachen kann, ist nicht unmöglich. Aber er muss das erst beweisen. Bei seinen zwei früheren Versuchen konnte er die Wähler gar nicht überzeugen und galt als eher schlechter Präsidentschaftskandidat.
All dies zeigt: Biden hat Chancen, aber gesetzt ist er nicht. Strauchelnde und gar scheiternde Favoriten sind in der neueren Zeit eher die Regel als die Ausnahme. Und jetzt schon eine Prognose zu wagen, ob Biden Donald Trump schlagen könnte, erachte ich als ziemlich unseriös. Dafür gibt es noch zu viele Unbekannten. Eineinhalb Jahre sind in der Politik eine Ewigkeit, in der sich alles verändern kann. In diesem Sinne: Let’s enjoy the process.