- Das Positive vorweg: Die Demokratie lebt in Tunesien. Zum zweiten Mal seit der Revolution im Jahr 2011 finden am Sonntag Präsidentschaftswahlen statt.
- 24 Kandidaten und zwei Kandidatinnen bewerben sich um die Nachfolge von Béji Caïd Essebsi, dem ersten freigewählten Präsidenten, der am 25. Juli im Amt verstorben ist.
- Doch im Geburtsland des Arabischen Frühlings steht längst nicht alles zum Besten: Die Wirtschaft ist in der Krise, die Reformen sind ins Stocken geraten – und die Korruption ist nicht besiegt.
«Gescheit muss er sein, der neue Präsident», sagt Metzger Khaled Gajim über die Pouletbrüstchen gebeugt, die er gerade für einen Kunden in feine Scheiben schneidet. Er betreibt einen Verkaufsstand auf einem Quartier-Markt in Tunis und leidet unter der hohen Inflation, die den Leuten das Geld wegfrisst. «Der neue Präsident muss etwas von Wirtschaft verstehen», sagt der Metzger und meint damit, er müsse die Wirtschaft ankurbeln. «Wir brauchen Arbeit, Arbeit, Arbeit. Doch die Politiker denken immer zuerst an sich – und an ihre Posten.»
Ich habe die Hoffnung verloren. Nichts hat sich verändert, seit 2011.
Geldentwertung von 40 Prozent
Enttäuschung macht sich breit, über das Ausbleiben eines Wirtschaftsaufschwungs seit dem friedlichen Abgang des Diktators Ben Ali im Januar 2011. Die Arbeitslosigkeit verharrt bei weit über 15 Prozent. Der Tunesische Dinar hat innerhalb von drei Jahren im Vergleich zum Euro fast 40 Prozent seines Wertes eingebüsst. Das frustriert viele Tunesier und Tunesierinnen. Einziger Lichtblick ist die Erholung des Tourismus nach den Terroranschlägen von 2015: Im vergangenen Jahr kamen wieder 8.3 Millionen Besucher nach Tunesien. Ein neuer Rekord. Doch: Der Tourismus macht nur 8 Prozent des BIP aus. Bergbau und Landwirtschaft serbeln weiter.
«Ich vertraue den Politikern nicht mehr. Ich habe die Hoffnung verloren», sagt Hausfrau Lina Bellagha, die am Fischstand gerade Sardinen für sich und ihre Familie kauft. «Nichts hat sich verändert, seit 2011.»
Korrupte Beamte und gekaufte Stimmen
Diese Enttäuschung kennt Yosra Mkadem nur zu gut. Doch Trübsal blasen ist nicht ihre Sache. Die junge Frau will das Land verbessern. Sie kämpft gegen Korruption und Vetternwirtschaft – bei «I Watch», der tunesischen Antenne der internationalen Anti-Korruptionsvereinigung Transparency International. «I Watch» ist dank dem arabischen Frühling erst möglich geworden. Yosra Mkadem sagt: «Es gibt viel zu tun. Leider sind Schmiergelder gerade bei den Zollbehörden oder im öffentlichen Beschaffungswesen nach wie vor an der Tagesordnung.» Durch überhöhte Preise für Infrastrukturbauten versickere viel Geld, das anderweitig dringend gebraucht würde.
Regelmässig bekommen wir Hinweise, dass Kandidaten Menschen in ärmeren Regionen im Wahlkampf Geschenke oder gar Geld geben, um ihre Stimmen zu bekommen.
Auch bei den bevorstehenden Wahlen wird «I Watch» genau hinschauen. Im ganzen Land werden Freiwillige die Wahlkampfausgaben der Parteien und ihrer Kandidaten unter die Lupe nehmen, um Unregelmässigkeiten aufzudecken. Unterstützt wird das Programm durch die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza).
Mkadem: «Regelmässig bekommen wir Hinweise, dass Kandidaten Menschen in ärmeren Regionen im Wahlkampf Geschenke oder gar Geld geben, um am Wahltag ihre Stimmen zu bekommen.» Doch diesen Verstoss gegen das Wahlgesetz zu ahnden, sei schwierig, so Mkadem: «Dafür braucht es einen Bildbeweis. Wiederholt sind unsere Beobachter bedroht worden, die eine solche Szene filmen wollten.»
«Tunesien ist in einer gefährlichen Lage»
Den demokratischen Transformationsprozess in Tunesien beobachtet auch Michaël Béchir Ayari mit grossem Interesse. Er arbeitet für die International Crisis Group – einem privaten Frühwarnsystem für drohende Konflikte. Ayari kommt zum Schluss, die Wahlen fänden in einem gefährlichen Kontext statt. «Es besteht die Gefahr, dass der Demokratisierungsprozess entgleist – und in Gewalt ausartet.»
Gegenwärtig wird das Land von einer grossen Koalition regiert. Entscheidend wird laut Ayari sein, ob die unterlegenen Parteien einen Machtverlust akzeptieren werden – oder ob es zu einem erbitterten Kampf um Macht und Einfluss kommen werde. Denn Ayari weiss: «Wer in Tunesien politisch an der Macht ist, hat direkten Einfluss auf einträgliche, staatlich-gelenkte Wirtschaftszweige.» Ayari bleibt verhalten optimistisch: «In den letzten acht Jahren steuerte Tunesien wiederholte Male auf den Abgrund zu – und hat jedes Mal die Kurve noch erwischt, oft in letzter Minute, mit einem Kompromiss.»