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Protestbewegungen in Tunesien «Im Maghreb besteht die Angst, dass es ausarten könnte»

Analog zu den «Gelbwesten» in Frankreich haben sich in dessen ehemaliger Kolonie Tunesien Protestbewegungen – die «Weiss-» und «Rotwesten» – gebildet, die teils gewerkschaftlich, teils spontan organisiert sind. Der Druck auf die Regierung ist gross, ihre Mittel für Zugeständnisse sind allerdings bescheiden, sagt Beat Stauffer.

Beat Stauffer

freier Journalist, Buchautor

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Beat Stauffer berichtet als freischaffender Journalist für verschiedene Medien aus Nordafrika. Er ist auch als Buchautor, Kursleiter und Referent tätig.

SRF News: Sind die Protestbewegungen in Tunesien von Frankreich inspiriert?

Beat Stauffer: Ja. Man muss sich aber vor Augen halten, dass Tunesien über eine sehr starke Tradition von Massendemonstrationen sowie eine starke Gewerkschaft verfügt. Andererseits haben fast auf den Tag genau vor acht Jahren die arabischen Aufstände begonnen, die sogenannte Arabellion. Aber natürlich orientiert man sich an dem, was in Frankreich passiert, wie man Druck machen kann auf eine Regierung.

Die «Weisswesten» sind Lehrer. Sie demonstrieren vor allem für bessere Löhne. Wofür stehen die «Rotwesten»?

Das ist nicht ganz klar. Die «Rotwesten» sind ein neues Phänomen. Sie haben sich erst vor etwa zehn Tagen in der Öffentlichkeit bemerkbar gemacht. Es sind vor allem jüngere Leute, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind. Wer dahinter steht, weiss man aber nicht. Ihnen ist offenbar gemeinsam, dass sie sich abgrenzen von den Parteien und, ähnlich wie die «Gelbwesten», eine Bewegung «von unten» darstellen.

Es gibt in Tunesien eine eigene Tradition von Massendemonstrationen.

In Frankreich wurden Sachen angezündet und beschädigt. Wie sieht es in Tunesien aus?

Das ist auch hier der Fall. In Tunesien arten Proteste seit Jahren immer wieder in gewaltsame Zusammenstösse aus. Strassen werden verbarrikadiert, Polizeikommissariate in Brand gesetzt. Die Regierung hat grossen Respekt, wenn nicht Angst vor diesen chaotischen, spontanen Bewegungen, bei denen man eben nicht mit einer Person zu tun hat und verhandeln kann.

Besteht die Gefahr, dass sich die Proteste ausweiten?

Diese Gefahr besteht auf jeden Fall. Es ist auch die Rede von Waffenfunden in Randregionen. Diese spontanen Bewegungen könnten sich mit Schmugglerbanden zusammentun, vielleicht gar mit islamistischen Gruppierungen aus den Grenzregionen. Und das gäbe eine explosive und schwierige Mischung.

Die spontanen Bewegungen könnten sich mit islamistischen Gruppierungen aus den Grenzregionen zusammentun.

Könnten die Proteste auf andere Länder überschwappen?

Ja. Eine ähnliche Bewegung hat es bereits in Marokko gegeben, die spezifisch gewisse Produkte und Firmen boykottiert hatte. In Ägypten sind am Montag gelbe Sicherheitswesten aus dem Sortiment von gewissen Geschäften entfernt worden, weil man Angst hat, dass sich Demonstrierende solche Westen besorgen könnten. Es besteht in der ganzen Maghreb-Region Angst vor derartigen Bewegungen, die dann ausarten könnten.

Wie gross ist derzeit der Druck auf die tunesische Regierung?

Sehr gross, weil es gleichzeitig eine gewerkschaftlich organisierte Bewegung gibt, die stark ist. Etwa 70 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer haben an dieser Bewegung teilgenommen. Die Schulen waren am Mittwoch weitgehend geschlossen. Dazu gesellt sich jetzt eine unstrukturierte, spontane Bewegung. Tunesien befindet sich in einem schwierigen Transformationsprozess. Das Land ist hoch verschuldet und kann letztlich nicht auf die Forderungen der Demonstrierenden eingehen. Und das ist eine sehr schwierige Situation für diese noch junge Demokratie.

Das Gespräch führte Susanne Stöckl.

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