Der Diktator ist weg, aber neue Leute diktieren nun das Geschehen: In Sudan sind neue grosse Strassenproteste angekündigt. Genau ein Jahr ist es her, seitdem sich das Militär an die Macht geputscht und die Zusammenarbeit mit der Demokratiebewegung gekündigt hat. Diese wollte das Land verändern; zwei Jahre zuvor war Langzeit-Diktator Omar al-Bashir gestürzt worden. Wie steht es um die Demokratie-Bemühungen im Land? Anna Lemmenmeier über die verfahrene Situation im Land.
SRF News: Wie präsentiert sich die Lage ein Jahr nach dem Putsch?
Anna Lemmenmeier: Die Situation ist verfahren. Die Sudanesinnen und Sudanesen haben den Putsch vor einem Jahr nie akzeptiert. Sofort sind sie zu Tausenden auf die Strasse gegangen. Das Militär gibt nicht auf und erschiesst weiterhin Protestierende.
Wieso finden die beiden Seiten keine friedliche Lösung?
Weil beide Seiten viel zu viel zu verlieren haben. Aufseiten des Militärs sind Personen an der Macht, die nicht nur Macht und wirtschaftlichen Einfluss verlieren könnten. Es sind auch Personen, denen viel Blut an den Händen klebt. Man erinnere sich an das Massaker 2019; damals hatte die aktuelle Junta den Diktator Omar al-Bashir gestürzt, welcher bis anhin das Land 30 Jahre lang regiert hatte.
Die Zivilbevölkerung hat nach dem Sturz von Bashir Freiheit geschnuppert, hat gesehen, wie es sein könnte, nicht in einer Militärdiktatur zu leben.
Als die Strassenproteste weitergingen, liess die Junta auf einen Schlag mehr als 100 Personen erschiessen. Es gibt noch weitere ähnliche Fälle. Man darf nicht vergessen, dass bei der Junta Personen involviert sind, welche auch unter Bashir dabei waren. Da geht es um Massentötungen in Darfur, welche das Ausmass eines Genozides haben dürften. Die Zivilbevölkerung hat ebenfalls viel zu verlieren. Sie hat nach dem Sturz von Bashir Freiheit geschnuppert, hat gesehen, wie es sein könnte, nicht in einer Militärdiktatur zu leben.
Wie stabil ist die Militärregierung?
Auch innerhalb der Junta gibt es eine Spaltung. Dabei geht es vor allem um zwei Figuren: Um General Burhan, welcher das Militär um sich hat, und um die Nummer zwei im Land, Mohammed Hamdan Daglo. Beide spannten 2019 zusammen, um Bashir zu stürzen. Es war aber auch immer klar, dass sie Rivalen sind. Immer wieder gab es Spekulationen, dass es zu einem internen Putsch kommen könnte. Dies wäre für Sudan gravierend.
Was bräuchte es, dass in Sudan Frieden und mehr Demokratie erreicht werden könnte?
Militär und Zivilbevölkerung müssen einen Kompromiss finden. Dies ist schwierig, weil es auch aufseiten der Zivilisten eine Spaltung gibt zwischen den politischen Parteien und den Menschen auf der Strasse. Ein Teil der politischen Parteien ist zu Gesprächen bereit, es haben auch bereits solche stattgefunden. Aber die Leute auf der Strasse wissen nicht, wer in ihrem Namen mit wem über was spricht.
Die Zermürbungstaktik des Militärs – nicht aufgeben, immer wieder Leute erschiessen – scheint zu funktionieren.
Zurzeit sieht es so aus, als wenn die Zermürbungstaktik des Militärs – nicht aufgeben, immer wieder Leute erschiessen – funktionieren würde. Die wirtschaftliche Situation hat sich seit dem Putsch nochmals massiv verschlechtert. Eigentlich ist das schwer vorstellbar, weil die Sudanesen bereits unter miserablen wirtschaftlichen Bedingungen leben. Sudan hat seit Monaten eine Inflation im dreistelligen Bereich und die Leute wissen nicht mehr, wie sie an ihr täglich Brot kommen sollen. Und deshalb ist es gut möglich, dass wenn die politischen Parteien mit den Militärs eine Einigung finden, die Leute auf der Strasse dieser zustimmen werden. Die wirtschaftliche Misere und die vielen Toten machen die Protestierenden schlicht zu müde.
Das Gespräch führte Isabelle Maissen.