Eine Gruppe von Frauen schwenkt sudanesische Flaggen und ruft «Thawra» – Revolution in ihren Sprechchören. Daneben liegen Steine am Boden, ein brennender Autoreifen, die Strasse zum Präsidentenpalast in der Hauptstadt Khartum ist blockiert. Die Sprechchöre werden vom lauten Knallen der Blendgranaten begleitet, im Hintergrund sieht man Tränengaswolken.
Dort im Tränengas steht Mumen Wd Zanaib, ausgerüstet mit Taucherbrille über seiner Brille und einer Maske als Schutz vor dem beissenden Rauch. «Ich bin hier, weil ich meine Rechte will. Wir brauchen Gerechtigkeit und Freiheit. Wir wollen über alles reden können, ohne verhaftet oder getötet zu werden. Wir wollen eine Regierung, die gewählt ist und nicht eine, die sich mit Waffengewalt die Macht genommen hat», sagt der 27-Jährige.
Mumen wd Zanaib geht an jeden Protest. Jede Woche mindestens zweimal. Seit fünf Monaten. «In diesem Land herrscht eine absolute Gesetzlosigkeit. Und die Wirtschaft ist am Boden. Die Menschen hier haben nichts.» Seit dem erneuten Militärputsch im Oktober hat sich die ohnehin schon desolate wirtschaftliche Situation Sudans nochmals verschlechtert. Sudan hat eine der höchsten Inflationsraten der Welt, im Januar betrug sie 260 Prozent. Immer wieder kommt es zu Engpässen bei der Versorgung mit Öl, Benzin und Mehl.
In diesem Land herrscht eine absolute Gesetzlosigkeit.
Weil der Sudan fast ausschliesslich Weizen aus Russland und der Ukraine importiert, wurde Brot letzte Woche nochmals um 40 Prozent teurer. Das befeuert die Proteste, auch wenn die Demonstrierenden betonen, dass es in erster Linie um Demokratie gehe. Nur in einer Demokratie könne auch die Wirtschaft florieren, sind die meisten überzeugt.
Mumen wd Zanaib bezahlt einen hohen Preis dafür, dass er sich wehrt gegen die Militärherrschaft. «Mir wurde ins Bein geschossen. Und in den rechten Arm. Den kann ich nun nicht mehr richtig bewegen. Aber ich habe ja noch den linken», sagt er und streckt die linke Faust in die Höhe.
Die Brutalität der sudanesischen Sicherheitskräfte ist schockierend. Frauen sind während der Proteste vergewaltigt worden, Sicherheitskräfte plündern und bestehlen Passanten.
Protestierende werden regelrecht exekutiert
Seit dem Militärputsch im Oktober wurden mindestens 89 Personen bei den Demonstrationen getötet, über 2800 verletzt. Protestierende werden regelrecht exekutiert, Kopfschuss, Schuss in die Brust. Das musste auch der 21-jährige Hassan hautnah miterleben.
Seinen vollen Namen will er nicht nennen, er will auch nicht fotografiert werden. Er will nicht der nächste «Märtyrer» sein. So werden im Sudan die Menschen genannt, die bei den Demokratieprotesten getötet worden sind. Fünf gute Freunde von Hassan sind seit Anfang Jahr Märtyrer. Der Schüler trägt ein T-Shirt mit ihren Fotos darauf an jeder Demonstration.
Dass das Militär seit dem Putsch wieder derart gewaltsam gegen die Protestierenden vorgeht, macht Hassan nur noch entschlossener. Er will, dass die für den Tod seiner Freunde Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Es gehe nun erst recht darum, für die ursprünglichen Forderungen der Revolution von 2019 einzustehen: «Freiheit, Friede und Gerechtigkeit.»
Mit ihren nicht aufhörenden Protesten hatten die Sudanesinnen 2019 Diktator Omar al-Baschir zu Fall gebracht, der das Land bis dahin während rund dreissig Jahren lang regiert hatte. Selbst als der Langzeitherrscher schon im Gefängnis sass, blieb das Volk auf der Strasse, sprach von Revolution und forderte, dass nicht nur der Diktator abtritt, sondern auch das Militär die Macht aus der Hand gibt.
«Wir wollen nicht weiter Sklaven der Militärs sein»
Zwei Monate lebten die Sudanesen praktisch auf der Strasse, bis das Militär zumindest bereit war, die Macht mit den Zivilisten zu teilen. Die Zeit der Übergangsregierung begann. Mit dem Militärputsch vom 25. Oktober 2021 wurde dieser Prozess hin zu Demokratie wieder jäh gestoppt. «Wir dürfen jetzt nicht aufgeben», sagt Amira Osman, die etwas weiter vom Tränengas entfernt in der Protestmenge steht.
Die bekannte Frauenrechtlerin wurde erst kürzlich aus dem Gefängnis entlassen. Sudanesische Sicherheitskräfte hatten sie mitten in der Nacht in ihrem Zuhause festgenommen und zwei Wochen festgehalten. Niemand wusste, wo sie war. Warum sie festgenommen wurde, weiss sie nicht.
«Wir wollen nicht weiter Sklaven der Militärs sein. Die Militärs unterdrücken das sudanesische Volk und beuten es aus. Dagegen kämpfen wir an.» Angst habe sie schon lange nicht mehr, sagt die 42-Jährige.
Amira Osman, Mumen wd Zanaib und Schüler Hassan sind wie viele der Demonstrierenden hier Teil eines Widerstandskomitees. Diese lokal organisierten Nachbarschaftsgruppen gibt es im ganzen Land und verbinden Tausende Sudanesinnen und Sudanesen. Die Widerstandskomitees organisieren nicht nur die Proteste, sondern bringen sich auch ein in den Demokratieprozess.
Demokratie von unten
Vor einem Monat haben die Komitees der Hauptstadt Khartum eine politische Charta vorgelegt, mit Vorschlägen, wie es in der verfahrenen politischen Situation im Sudan weitergehen könnte. Demokratie von unten, ein Konzept, das es für die Militärs schwierig macht, Allianzen zu finden. Denn die Demokratiebewegung ist kompromisslos. Ein Zusammenspannen mit der Militärregierung steht für die Widerstandskomitees ausser Frage.
Während des Protestnachmittags werden regelmässig Verletzte mit Motorrädern aus der Menge gefahren. Zwei Sudanesinnen in ihren Zwanzigern haben eine kleine Notfallstation eingerichtet. Desinfektionsmittel, Gazen, Schmerzmittel. «Das ist unser Beitrag an die Revolution», sagen die beiden Frauen aus dem Gesundheitsbereich, während sie die Verletzten minimal versorgen.
«Seit dem Putsch sind wir wieder so weit entfernt von dem Land, das wir uns wünschen. Darum werden wir nicht von der Strasse weichen, bis wir den Sudan haben, von dem wir träumen.» Nach dem Sturz von Omar al-Baschir hatte der Sudan gespürt, was Freiheit bedeuten könnte. Freiheit, Friede und Gerechtigkeit war der Slogan bei den Protesten 2019. Und für diese Werte wollen die Sudanesinnen und Sudanesen weiterkämpfen.