Die massiven Proteste gegen die Justizreform der israelischen Regierung halten seit ungefähr zwei Monaten an. Der Widerstand aus der Bevölkerung hat sich mittlerweile auf die Armee ausgeweitet: Hunderte Eliteoffiziere aus der Militärreserve kündigten an, sich ab Sonntag nicht mehr zum Dienst zu melden.
«Wir fürchten, dass es einen Verstoss gegen unseren Eid, unser Gewissen und unseren Auftrag wäre, Militärbefehlen nachzukommen», schrieben Offiziere in einem offenen Brief zur Begründung ihres Protests.
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu forderte die Militärführung auf, den Protest der Reservisten zu unterbinden: «Ich erwarte vom Generalstabschef und den Leitern der Abteilungen der Sicherheitsabteilungen, aggressiv die Dienstverweigerung zu bekämpfen.»
Dass nun Militärdienst verweigert wird, zeige, wie tief die Gräben sind, die Netanjahus Minister aufgerissen haben, sagt SRF-Auslandredaktorin Susanne Brunner. Israel hat eine Milizarmee: Männer müssen knapp drei Jahre, Frauen knapp zwei ins Militär: «Das Militär ist für Israelis eine einende und überlebenswichtige Institution. Nun haben die wochenlangen Proteste Israels Armee und Luftwaffe erreicht.»
Armeeführung hält sich zurück
Die Militärführung zögert derweil, etwas gegen die protestierenden Reservisten zu unternehmen. «Die Armeeführung befürchtet noch mehr Proteste, wenn sie harte Massnahmen gegen Reservesoldatinnen und -piloten ergreifen würde», erklärt die ehemalige Nahostkorrespondentin Brunner. Die israelischen Streitkräfte sind auf die Reservetruppen angewiesen.
Die Justizreform und die Proteste haben Sprengkraft, sie könnten die Armee zerreissen. Das habe gar Netanjahus Verteidigungsminister erkannt. «Er hat mit seinem Rücktritt gedroht, sollte Netanjahu seine radikale Justizreform so kompromisslos vorantreiben», so Brunner. Der israelische Premier hat darauf eine Abschwächung der Justizreform angekündigt.
Offen bleibt die Frage, ob die radikalsten Minister auf einen Kompromiss einsteigen werden. Einen Kompromissvorschlag des israelischen Präsidenten Isaac Herzog haben sie bereits abgelehnt.
«Fraglich ist, ob Netanjahu als Premier seine Regierung überhaupt im Griff hat – oder sie ihn, wie Armeeveteranen kürzlich behaupteten. Sie stellten Netanjahu in einer Protestaktion als Geisel der extremen Rechten dar», so Brunner.
Dem Land könnte eine hässliche Zerreissprobe drohen. Der ehemalige Verteidigungsminister Benny Gantz warnte gar vor der Gefahr, in Richtung Bürgerkrieg zu gleiten.
«Würde die Regierung ihre kompromisslose Version der Justizreform durchboxen, dann würde die Opposition ans Höchste Gericht gelangen. Dieses würde die Justizreform für illegal erklären. Nur: Gemäss der Justizreform hätte das Gericht nicht das letzte Wort. Dann müssten sich die Sicherheitskräfte und die Armee zwischen der Regierung und dem Höchsten Gericht entscheiden. Sie müssten entscheiden, wem sie in einem solchen Fall Folge leisten würden», erläutert die Auslandkorrespondentin.
Es könnte also passieren, dass sich ein Teil der Armee auf die Seite des Höchsten Gerichts und ein anderer auf die der Regierung schlagen würde. «Das wäre eine echte Zerreissprobe, die zu erwarten ist», sagt Brunner. Denn die Proteste gehen mitten durch die Armee, die eigentlich aus der Zivilbevölkerung besteht.