Fast schon eine Woche dauern die Proteste im Iran an. Und noch immer gibt es mehr Fragen als Antworten. Und noch immer keine gesicherten Fakten. Was langsam aufscheint, gleicht einem Puzzle: viele unterschiedliche Teile, die mehr oder weniger zusammenpassen.
Einer, der das Bild sehr sorgfältig zusammensetzt, ist Ali Vaez, der Iran-Experte der «International Crisis Group». Er sagt, dies sei keine neue Revolution, sondern hier explodiere die ganze Frustration über die wirtschaftliche und politische Stagnation. Mit voller Wucht. Diese Frustration bricht in jeder Stadt und jedem Ort anders auf.
In Arak, einer Industriestadt, sagen Demonstranten, sie erhielten schon länger keine Löhne mehr. Andere sind arbeitslos und sehen keine Perspektive. In Kermanschah, im November von einem schweren Erdbeben heimgesucht, warten die Obdachlosen noch immer auf Hilfe vom Staat – und scheinen nicht mehr daran zu glauben. Ihr Zorn richtet sich gegen Präsident Hassan Rohani.
Die ganze wirtschaftliche Not, die soziale Ungerechtigkeit, die riesige Jugendarbeitslosigkeit, soll Rohani verschuldet haben. Ein Vorwurf, der sich relativiert, wenn man ihn in den Kontext stellt: Hassan Rohani hat von seinem Vorgänger Mahmoud Ahmadinejad eine ausgeplünderte, ruinierte Wirtschaft geerbt. Und die mächtigen Revolutionsgarden wehren sich mit aller Kraft gegen dringend nötige Reformen, die der Präsident in Angriff nehmen will. Ausserdem tut die amerikanische Regierung viel, um einen Wirtschafstaufschwung im Iran zu verhindern.
Aus Angst vor Strafen in den USA oder möglichen neuen Sanktionen, weigern sich die meisten Grossbanken, Geschäfte mit dem Iran zu finanzieren. Geschäfte, mit denen die iranische Regierung und die Bevölkerung nach dem Atomabkommen gerechnet hatte.
Trotzdem: Präsident Rohani hat zu viel versprochen und zu wenig gehalten oder halten können. Anders als erwartet, hat er nach seinem Wahlsieg im Mai keine Frauen als Ministerinnen in seine Regierung berufen. Nichts von politischer Öffnung oder gar dem Versuch, die beiden Oppositionsführer von 2009, Mehdi Karroubi und Mir Hossein Mussawi, aus dem Hausarrest zu befreien. Das Warten wird lang. Und die Jugend radikaler.
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Bild 1 von 12. Im März 1951 wird Mohammed Mossadegh zum Premierminister gewählt. Er ist Mitglied der Nationalen Front. Das Parteienbündnis steht in der Opposition zum amtierenden Schah. Das Ziel: die nationale Unabhängigkeit des Irans und die Verstaatlichung der Ölwirtschaft. Letzteres setzt er auch im Parlament durch. Bildquelle: Imago.
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Bild 2 von 12. Der Konflikt mit dem Herrscher Irans, Schah Mohammed Reza Pahlavi (Bild), ist vorprogrammiert. Das Land leidet unter einer Finanzkrise und die Rechte des Schahs werden vom Parlament eingeschränkt, Teile seiner Ländereien konfisziert. Der weltweite Druck auf das Land steigt. Fast alle internationalen Ölfirmen boykottieren den Iran. Bildquelle: Keystone.
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Bild 3 von 12. 1953 versucht der Schah seinen politischen Widersacher, den iranischen Premierminister Mossadegh, zu stürzen. Der Versuch scheitert. Im Bild: 16. August 1953, iranische Soldaten vor dem Polizeihauptquartier in Teheran. Bildquelle: Keystone.
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Bild 4 von 12. Nach dem missglückten Staatsstreich flieht der Schah Reza Pahlavi (R) zusammen mit seiner Ehefrau Soraya Esfandiari Bakhtiari nach Paris. Bildquelle: Keystone.
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Bild 5 von 12. Ölembargo, Finanzkrise, Demokratiebestrebungen sowie die Spannungen zwischen dem Schah und Premier Mossadegh hinterlassen Spuren im Land: In den grossen Städten kommt es zu Demonstrationen. Bildquelle: Keystone.
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Bild 6 von 12. Premier Mohammed Mossadeghs Freude über die Flucht des Schahs währt nur kurz. Am 19. August 1953 führen Teile der iranischen Armee mit Hilfe des US-Geheimdienst CIA einen erfolgreichen Staatsstreich durch. Die USA befürchten eine Annäherung Mossadeghs an die Sowjetunion. Er ergibt sich und der Schah kehrt aus dem Exil zurück. Bildquelle: Imago.
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Bild 7 von 12. Der Schah leitet in den Jahren danach widerwillig demokratische Reformen ein. Doch er steigt zum Alleinherrscher auf – trotz schwerer Unruhen in den 1960er- und 1970er-Jahren. Religiöse Führer spielen dabei eine tragende Rolle. Allen voran: Ajatollah Ruholla Chomenei. Im Januar 1979 kommt es zur grossen Revolution. Der Schah flieht nach Paris. Bildquelle: Keystone.
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Bild 8 von 12. Die Revolution gegen den Schah versetzt den Westen in Alarmstimmung. Die USA betrachten den Schah als Garant für Stabilität. Für sie ist er ein Gegengewicht zum harten Kurs arabischer Regime und palästinensischen Hardlinern in der Region. Im Bild: Strassenszene während einer Demonstration in Teheran, 1978. Bildquelle: Keystone.
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Bild 9 von 12. Der schiitische religiöse Führer Ayatollah Ruhollah Chomeini trifft zwei Wochen nach der Flucht des Schahs in Teheran ein. Bildquelle: keystone.
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Bild 10 von 12. Bereits vor der Revolution hat die Regierung die Forschung im Bereich Atomenergie vorangetrieben. Der Schah will die Energieversorgung des Landes damit ergänzen. Doch die Forschung wird aufgrund der innenpolitischen Entwicklungen unterbrochen. So werden die Arbeiten am Bau des Reaktors in Buschehr erst im Jahre 1979 fortgesetzt. Bildquelle: wikipedia.org.
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Bild 11 von 12. Der Iran betonte stets den zivilen Nutzen der Atomenergie. Doch der Westen warf Teheran vor, ein Atomwaffenprogramm zu betreiben. Sanktionen werden verhängt. Mit dem Amtsantritt von Präsident Mahmud Ahmadinedschad im Jahr 2005 erhält der Streit neuen Auftrieb. Im Bild: Ahmadinedschad beim Besuch der Urananreicherungsanlage in Natanz. Bildquelle: Reuters.
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Bild 12 von 12. Mit dem Amtsantritt von Hassan Rohani im Jahr 2013 kommt es zu Fortschritten im Atomstreit. Rohani setzt vermehrt auf den Dialog, um so die Wirtschaftssanktionen zu lockern. Dies zeigte sich bereits bei den Atomgesprächen, die er vor seiner Wahl geleitet hatte. Im Juni 2015 ist es soweit: Es kommt zur Einigung, die Sanktionen werden gelockert.. Bildquelle: Reuters.
Heute scheinen Reformer, aber Männer des Systems, für viele Junge keine wirkliche Alternative mehr zu sein. Die Slogans, die direkt Revolutionsführer Ali Khamenei angreifen, richten sich gegen das System. Die Herrschaft der Mullahs. 2009 war mehr Zurückhaltung. Die monatelangen Proteste hatten Führerfiguren und klare Forderungen. Und sie begannen in der Hauptstadt Teheran. Getragen wurden sie von der Mittelschicht, den Studenten und Intellektuellen.
Nach einer Woche der Proteste sehen wir heute eine schwer einschätzbare Situation. Sollte das Regime den Protest mit Gewalt niederschlagen - ähnlich wie 2009 – würde das vermutlich zu neuen Sanktionen führen, das Ende des Atomabkommens wäre wohl nahe und der Iran erneut isoliert. Sollte das Regime die Kontrolle verlieren, würde der Iran ins Chaos stürzen.
Sicher ist, auch wenn der Protest abflaut oder beendet wird, Wut und Frustration bleiben und werden wieder explodieren. Präsident Rohani sagte heute, er hoffe, die Proteste würden in einigen Tagen enden. Hoffnung allein genügt nicht mehr.