Nina Baginskaja hält den Stock ihrer weiss-rot-weissen Fahne fest mit beiden Händen, während sie mit sicheren Schritten auf die Absperrung der Sondereinheiten zugeht. Vor ihr reiht sich eine Strassensperre aus Polizeiwagen mit Gerüsten vor den Windschutzscheiben auf. Die metallenen Käfige machen die Polizeiwagen zu Festungen auf Rädern, auf denen zuoberst die Sondereinheiten postiert sind.
Die 73-Jährige zeigt sich wenig beeindruckt, reckt den Kopf nach oben und tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. Was klingt wie eine Filmszene, hat sich im September in Minsk abgespielt und wurde von einer Youtube-Bloggerin veröffentlicht. Die Frau hinter der Kamera ruf Nina Baginskaja zu: «Nina – wir sind mit Ihnen!»
«Wir» – damit ist die Mehrheit der belarussischen Bevölkerung gemeint, die gegen das Regime von Alexander Lukaschenko demonstriert. Ein Regime, das sich versucht, mit Gewalt an der Macht zu halten.
Hymne an die Mutigen
Der Protest durchdringt weite Teile der Bevölkerung. Auch Musikerinnen und Musiker wie Ksenija Schuk und ihr Mann Artjom unterstützen die Protestbewegung. Sie sind landesweit bekannt, seit sie 2017 am «Eurovision Song Contest» für Belarus teilgenommen haben. Statt auf einer grossen Bühne spielten sie im August an einem Frauenmarsch in Minsk.
Gegenüber SRF schildert Ksenija Schuk: «Diese Frauen demonstrierten in weissen Kleidern, mit Blumen, und es war einfach unglaublich schön. Sie tragen das Gute in sich.»
Doch auch gegen den friedlichen Protest der Frauen gehen die Sicherheitskräfte mit Gewalt vor. Es kommt zu absurden Szenen. Singende Frauen werden von Sicherheitskräften umringt, bevor man sie einzeln in Kastenwägen abführt.
Ksenija Schuk hat den Frauen einen Song gewidmet. Die 28-jährige erzählt SRF: «Als um uns herum die Festnahmen begonnen und bekannt wurde, wie man die Menschen schlug, da hörten wir, dass eine Bekannte ins Gefängnis kam. Das hat mir unfassbar weh getan. Sie war eine jener Frauen, die mich zum Song inspiriert haben.»
Unterschätzte Frauen
Die Frauen nehmen eine wichtige Rolle im Widerstand gegen Lukaschenko ein, seit Swetlana Tichanowskaja sich erfolgreich für die Präsidentschaftswahlen registrieren lassen konnte. Ihren Mann hatte man zuvor von den Wahlen ausgeschlossen und ins Gefängnis gesperrt.
Alexander Lukaschenko liess Tichanowskaja kandidieren, da er in Frauen schlicht keine Konkurrenz sah. Noch im Mai trat er selbstsicher vor Arbeiter einer Fabrik und sagte: «Unsere Gesellschaft ist nicht bereit, für eine Frau zu stimmen. Denn unsere Verfassung verleiht dem Präsidenten sehr viel Macht. Ich bin überzeugt, zum Präsidenten wird ein Mann gewählt.» Das offizielle Wahlresultat von über 80 Prozent der Stimmen liess Lukaschenko fälschen.
Gewalt in Endlosschlaufe
Auf die Proteste nach den gefälschten Wahlen reagierte das Regime mit Gewalt. Es kam zu tausenden Festnahmen im Land, die Folter in mehreren hundert Fällen ist dokumentiert. Von der Gewalt der Sicherheitskräfte betroffen waren hauptsächlich Männer.
Darauf regte sich Widerstand unter den Frauen in Belarus. Nina Baginskaja ist überzeugt: «Die Sicherheitskräfte fürchten sich davor, die Frauen mit aller Gewalt zu schlagen. Es wurden aber auch Frauen geschlagen. Es hängt von der Person ab, die es wagt, den Schlagstock gegen uns zu erheben.» Doch den Widerstand der Frauen konnte bisher keine Gewalt brechen. Die Frauen demonstrieren weiter jede Woche friedlich gegen das Regime.