Seit Wochen wird in Chile protestiert – gegen höhere Preise, Ungleichheit und Korruption. Die Polizei geht rigoros gegen die Demonstranten vor. Mehrere von ihnen erleiden Augenverletzungen.
Eine davon ist Natalia Aravena. Die 24-jährige Krankenschwester ist seit zwei Wochen auf einem Auge blind. Bei einer Demonstration schoss ihr ein Polizist eine Tränengaskartusche direkt ins Gesicht, «aus einer Entfernung von maximal drei oder fünf Metern, sehr nah.»
Nun sitzt sie auf ihrem Bett, die Mutter hat etwas zu Essen gebracht. «Sie wollen uns zum Schweigen bringen, damit unsere Forderungen nicht gehört werden», sagt Natalia. Sie ist gegen die Ungleichheit in Chile, fordert ein gerechteres Bildungs- und Gesundheitssystem. Ihre Freunde gehen weiter auf die Strasse.
Fünf Personen getötet
Es ist ein trauriger Rekord: Mehr als 5000 Verhaftungen, über 2000 Verletzte, mehrere hundert Anzeigen gegen Polizisten, unter anderem wegen Folter und sexuellem Missbrauch. Mindestens fünf Menschen wurden von der Polizei getötet. Und das alles in nur drei Wochen. Dennoch gehen täglich Tausende von Chilenen auf die Strassen, um gegen die Ungleichheit im Land und für eine neue Verfassung zu demonstrieren. Immer lauter wird auch die Forderung nach einem Rücktritt von Präsident Sebastián Piñera.
Dieser sieht in dem brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte strafbare Einzelfälle. Er versprach, dass sowohl gewalttätiges Verhalten von Demonstranten als auch Polizeigewalt verfolgt werden sollen: «Jeder Exzess, der passiert sein sollte, jede Verletzung der Protokolle von Seiten der Polizei, jeder exzessive Machtgebrauch, wird von der Staatsanwaltschaft verfolgt und vor Gericht kommen.» Den Willen daran zweifeln die Demonstranten an: Dazu dauert die Repression schon zu lange, zu massiv ist der Einsatz von Schrotkugeln und Tränengas. Dazu kommt: Viele Polizisten tragen keine Identifikationsnummer. Wie sollen sie da angeklagt werden?
«Systematische und strukturelle Repression»
Den Staat kontrollieren: Das haben sich die Menschenrechtsbeobachter von der Casa Memoria José Domingo Cañas zum Ziel gesetzt. Sie filmen auf den Demonstrationen und sammeln Munitionsreste. Die Beweise für das brutale Vorgehen der Polizei sind die Grundlage für ihre Berichte, die sie unter anderem an die Vereinten Nationen schicken. Eine der Beobachtungen: Die Polizei schiesst direkt auf Augenhöhe.
«Warum sagen wir, dass die brutale Repression systematisch ist: Weil sie über einen langen Zeitraum hin passiert, bei jeder Demonstration», erklärt Menschenrechtsbeobachterin Marta Cisterna. «Und warum sagen wir, sie ist strukturell: Weil die staatlichen Behörden dieses Vorgehen zulassen.»
Auch Amnesty International wirft der chilenischen Regierung Chiles vor, keinen Willen zu zeigen, etwas am Vorgehen der Polizei zu ändern und die Rechte der Demonstrierenden zu respektieren.
Solidarität mit Verletztem
192 Demonstranten sind bereits an den Augen verletzt worden. Die meisten Schäden sind irreversibel. Ein Fall sorgte für besonderes Aufsehen: Der 21-jährige Gustavo Gatica ist an beiden Augen verletzt worden. Nur eines kann vielleicht doch noch gerettet werden.
Vor einem Spital in Santiago de Chile haben sich deshalb etwa zweihundert Menschen versammelt: Sie rufen Gustavo unterstützende Worte zu und hoffen, dass er sie im Krankenbett hört. Doch es dauert kaum eine halbe Stunde, bis auch diese friedliche Demonstration von der Polizei mit Tränengas aufgelöst wird. Überrascht ist in diesen Tagen in Chile davon niemand.