In zahlreichen europäischen Ländern herrscht Proteststimmung: Bäuerinnen und Bauern wehren sich gegen Geldkürzungen, Zehntausende protestieren gegen Rechtsextremismus und auch der Nahostkonflikt treibt immer wieder Menschen auf die Strasse. Die Forderungen aus einigen Bewegungen weisen Ähnlichkeiten auf; Proteste können eine transnationale Resonanz haben. Warum die meisten Protestbewegungen dennoch für sich selbst stehen, erklärt Protestforscher Tarek Sydiq.
SRF News: Können sich Proteste gegenseitig befeuern?
Tareq Sydiq: Proteste, die Protestierende medial sehen oder wahrnehmen, können inspirierend sein. Einerseits kann der Anlass selbst der Grund sein, wieso jemand auf die Strasse geht. Es kann aber auch sein, dass jemand zwar ein anderes Anliegen hat, jedoch sieht, dass die Taktik funktioniert. Wenn eine Protestbewegung Erfolg hatte und ein Ziel durchsetzen konnte, ist das umso inspirierender für andere Protestbewegungen. Proteste können sich ein Stück weit gegenseitig befeuern.
Man kann die EU-Politik besser beeinflussen, wenn man in mehreren Ländern protestiert.
Es gibt teilweise koordinierte Proteste. Beispielsweise reisen Rechtsextreme für Demos in andere Länder oder organisieren diese mit. Kann es sein, dass die aktuellen Proteste koordiniert sind und aus einer Hand kommen?
Es ist durchaus so, dass sich verschiedene Protestakteure austauschen und sich auch bei Strategien koordinieren. Aber ganz viele Protestbewegungen handeln um nationale und nationalstaatliche Themen. Das trifft auch weitgehend auf die jetzigen Proteste zu. Es sind also die jeweiligen politischen Kontexte im Nationalstaat, die den Protest fördern. Das heisst, da sind unterschiedliche Vorgehensweisen nötig und da ist die Unterstützung von anderswo gar nicht immer so hilfreich.
Wenn Menschen in mehreren Ländern zum gleichen Anliegen demonstrieren, hat das ja auch eine Kraft. Hat das konkrete Auswirkungen?
Das hängt sehr stark auch vom Thema ab. Bei Themen, die transnational behandelt werden, macht es Sinn, dagegen transnational zu protestieren. Zum Beispiel kann man die EU-Politik besser beeinflussen, wenn man in mehreren Ländern protestiert. Bei den Bauernprotesten ist das jetzt auch passiert. Die Bauern sind gegen bestimmte nationale Politiken auf die Strasse gegangen, was auch einen Effekt auf EU-Ebene hatte. Die EU-Kommission hat ihre Agrarpolitik ein Stück weit zurückgenommen, um nochmals darüber nachzudenken. Wenn ich ein Thema habe, das nur nationalstaatlich abläuft, funktioniert das transnational nicht ganz so gut.
Demonstrationen haben auf anderen Kontinenten auch schon einen Flächenbrand ausgelöst, beispielsweise beim Arabischen Frühling. Ist das auch in Europa möglich?
Grundsätzlich ja. 2011 haben beispielsweise die Sozialproteste und die Anti-Austeritätsprozesse in Südeuropa eine grosse Protestwelle ausgelöst. Dabei wurden auch die jeweiligen Parteiensysteme nachhaltig transformiert. Das hatte durchaus vergleichbare Dimensionen mit dem Arabischen Frühling. In vielen anderen Fällen ist das nicht der Fall, weil die Wut und die Unzufriedenheit mit dem System als Ganzes fehlen. Oft geht es um spezifische Politikbereiche.
Das Gespräch führte Can Külahcigil.