«Wir sind alle Iraker!», skandieren die Menschen in Irak und gehen zu Tausenden auf die Strasse. Sie fordern den Sturz der Eliten, ein Ende der Korruption. Nahost-Korrespondentin Susanne Brunner erstaunt vor allem der Mut der Demonstranten.
SRF News: Was passiert derzeit in Irak?
Susanne Brunner: Meine Kontaktpersonen in Bagdad erzählen mir, dass nun offenbar auch Familien mit ihren Kindern und ältere Leute auf die Strasse gehen. Dies, obwohl die Sicherheitsbehörden Tränengas einsetzen und in den letzten Tagen und Wochen viel Gewalt ausgeübt wurde. Ein Student aus Bagdad hat mir heute erzählt, die jungen, gebildeten Leute gingen zusammen mit ärmeren, jungen Menschen, die nicht das Privileg haben, an der Universität zu studieren, auf die Strasse. Es scheint tatsächlich ein recht breites Spektrum der Bevölkerung an den Protesten teilzunehmen.
Das Land ist politisch und religiös gespalten. Erstaunt Sie diese Einigkeit?
Die Einigkeit erstaunt mich weniger als die Furchtlosigkeit. Als ich letztmals in Bagdad war, erzählten mir junge Leute, dass sie nur selten abends ausgingen, weil sie Angst vor Gewalt hätten. Aber alle haben dieselben Sorgen. Sie haben kein Geld, um Schäden in der Wohnung zu reparieren oder für neue Kleider.
Es muss mehr in die Infrastruktur investiert werden. Ebenso braucht es eine diversifiziertere Wirtschaft.
Hinzu kommt die Korruption. Dass alle davon genug haben, ist nicht erstaunlich. Erstaunlich ist aber ihr Mut, denn immerhin wurden bei Protesten im ganzen Land Tausende verletzt und über 200 Menschen getötet.
Wie sind die Lebensumstände, welche die Menschen auf der Strasse beklagen?
Mir fiel immer wieder auf, wie wenig Geld die meisten Leute auf sich tragen. Aber noch auffallender ist, dass die meisten sich nicht einmal besonders über mangelnde Arbeit oder Geld beklagen, sondern vor allem über die Korruption. Und die ist im Alltag überall spürbar. Über die Hälfte des gesamten Haushaltsbudgets fliesst in die Löhne, Renten und Sozialleistungen der Verwaltungsangestellten. In die Infrastruktur wird nur ein Bruchteil davon investiert.
Die Menschen wissen, dass es ihnen trotz Krisen besser gehen könnte, wenn ihre Politiker einfach redlicher und kompetenter wären.
Dabei wurden viele Städte und Dörfer im Kampf gegen den IS zerstört. Es muss also mehr in die Infrastruktur investiert werden. Ebenso braucht es eine diversifiziertere Wirtschaft. Irak hängt zu 90 Prozent vom Öl ab.
Die Leute fordern einen Sturz der Regierung. Was ist da zu erwarten?
Heute hat der irakische Staatspräsident bekannt gegeben, dass Premierminister Adil Abd al-Mahdi zurücktreten werde, wenn ein geeigneter Nachfolger gefunden sei. Der Rücktritt des Premiers, der erst ein gutes Jahr im Amt ist, wird unmittelbar nichts verändern. Was die Demonstrierenden fordern, ist eine Regierung, die nicht aus Politikern besteht, die nur für sich und ihre Klientel sorgen. Sie wollen eine Regierung von Experten, die wissen, wie man einen Staatshaushalt führt, wie man ein Kraftwerk baut, wie man die Infrastruktur flickt, und die das Geld auch an den richtigen Ort fliessen lassen.
Auch in Libanon gibt es eine Protestbewegung, die sich gegen die korrupte Elite auflehnt. Sehen Sie Parallelen zwischen Irak und Libanon?
Ja, die Forderungen der Demonstrierenden ähneln sich. Sie sind auf die Wirtschaft, die Korruption und das politische System fokussiert. Vor allem aber haben sie den Wunsch nach einer korruptionsfreien und gut verwalteten Wirtschaft. Und der ist nicht nur in Libanon und Irak hörbar, sondern in der ganzen Region. Die Menschen wissen, dass es ihnen trotz Krisen besser gehen könnte, wenn ihre Politiker einfach redlicher und kompetenter wären.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.