Tausende singen in den Strassen Beiruts die Nationalhymne, die meisten tragen mit Stolz libanesische Flaggen. «Zum ersten Mal sind wir vereint, über religiöse und politische Zugehörigkeiten hinweg», schwärmt eine von drei Frauen, die aus einem Mittelklasseviertel mit ihren Kindern zur Demonstration gekommen sind. Die korrupten Politiker sollen weg, «weil sie nur für ihre Familien sorgen und nicht für alle», sagt der 11-jährige Jad.
Sie wollen auch keine Politiker mehr, die sie aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit gegeneinander ausspielen. «Ich bin Muslimin und das ist mir egal. Meine Religion geht nur mich und Gott etwas an», sagt eine der drei Frauen.
Aus allen Quartieren Beiruts strömen die Menschen an die Demonstration, nachdem Premierminister Saad Hariri unter grossem Druck am Montag Reformen angekündigt hat: alte Menschen an Stöcken, Familien mit Kindern, Geschäftsleute, Jugendliche, arme und wenig Gebildete. Kaum jemand will sich durch Hariris Versprechen besänftigen lassen. «Wir haben diese eine Chance, unser Land zu verändern, und die packen wir!», so die 19-jährige Hiba.
So friedlich die Demonstration, so unflätig die Beschimpfungen an die Adresse der Politiker. Ein mutiges Zeichen in einer Zeit, in der in Libanon Menschen schon wegen kritischer Facebook-Posts verhaftet werden. Das findet die Assistenzprofessorin und Aktivistin Carmen Geha, die sich bereit macht, an die Demo zu gehen.
«Die Leute wollen nicht mehr mundtot gemacht werden, sie haben genug», sagt Geha, die auch bei den Protesten gegen die schlechte Abfallentsorgung vor vier Jahren dabei war. Die jetzigen Proteste seien anders, weil die Menschen nicht nur in Beirut auf die Strasse gingen, sondern auch in kleinen Städten im Norden und im Süden des Landes, wo lokale Milizen herrschen.
Und sie protestieren nicht nur gegen die wirtschaftliche Not, sondern auch gegen religiöse Vorschriften, für Frauenrechte und soziale Gerechtigkeit: «Es geht nicht einfach nur um billigeres Benzin, sondern es geht darum, dass die Politiker seit langem Nieten sind und dass die Leute sie weghaben wollen.»
General Wehbé Katicha hat die Botschaft verstanden. Er ist Parlamentsabgeordneter der christlichen Libanesischen Kräfte. Seine Partei ist – bisher als einzige – wegen der Proteste aus der Regierung ausgetreten.
Dabei stand seine Partei immer hinter Staatspräsident Micheal Aoun. «Ich bin ein Kämpfer», sagt der ehemalige General. «Aber mit diesem Präsidenten können wir weder die libanesische Wirtschaft noch die Politik reformieren.»
Damit spielt er unter anderem auf die Posten an, die der libanesische Präsident an Familienmitglieder vergeben hat. Katicha steht voll hinter den demonstrierenden Menschen. Er geht zwar nicht soweit, den Rücktritt des Präsidenten zu fordern. Aber er sieht nur einen Ausweg aus der Krise.
Katicha fordert eine Übergangsregierung mit parteiunabhängigen Experten. Diese soll die Korruption bekämpfen, der Bevölkerung endlich Strom, sauberes Wasser, gutes Internet, und eine bezahlbare Gesundheitsversorgung geben, und die gigantische Schuldenlast abbauen.
Die Proteste gehen bis tief in die Nacht weiter. Doch langsam kommt bei den Teilnehmern die Sorge auf, dass die Regierung die Proteste gewaltsam beenden könnte – wie vor vier Jahren. Oder dass die Menschen müde werden von den täglichen Protesten und die Chance verpassen, etwas zu verändern.