In Ungarn herrscht Ausnahmezustand. Nicht wegen der täglichen Demonstrationen, sondern weil die Regierung von Viktor Orban am 25. Mai den Ausnahmezustand ausgerufen hat. Begründet hat Orban das mit dem Ukrainekrieg.
Das erlaubt ihm, per Dekret zu regieren. So war es auch möglich, eine hochumstrittene Steuerreform anzukündigen und am nächsten Tag durchs Parlament zu peitschen. Die Zweidrittelmehrheit im Parlament macht es möglich.
Die Menschen mit Steuerreform verärgert
Was folgte, waren sieben Tage lang Demonstrationen von Menschen, die sonst kaum an Protestveranstaltungen anzutreffen sind: Coiffeusen, Pflegefachfrauen, Grafiker und Velokuriere. Was sie alle vereint: Sie werden mit dem Steuersystem namens Kata besteuert.
Kata erlaubt es Kleingewerblern und Einpersonen-Firmen, einfach und billig eine Firma zu gründen. Sie bezahlen 125 Euro pro Monat, damit sind fast alle Steuern und Sozialabgaben beglichen – ohne Bürokratie, ohne Buchhaltung.
Die Regierungspartei Fidesz hat viel Geld ausgegeben, um die Wahlen zu gewinnen. Deswegen braucht sie jetzt rasch mehr Einnahmen.
Die Ironie: Es war Viktor Orban, der Kata vor zehn Jahren einführte, um die Sympathien der Kleingewerbler zu gewinnen. 450'000 Kata-Firmen entstanden daraufhin. Viele durch Menschen, die neben ihrem Hauptberuf oder ihrem Rentnerleben einem Nebenerwerb nachgehen, etwa als Teilzeit-Nachhilfelehrer, Altenpflegerin oder Übersetzer.
Kata wird über Nacht abgeschafft
Jetzt hat Orban seine Erfindung über Nacht weitgehend wieder abgeschafft und seine einstige Wählerschaft gegen sich aufgebracht. «Die Regierungspartei Fidesz hat viel Geld ausgegeben, um die Wahlen zu gewinnen. Deswegen braucht sie jetzt rasch mehr Einnahmen», sagt der Politologe Attila Tibor Nagy.
Dass Ungarn knapp bei Kasse ist, liegt auch daran, dass die EU die Corona-Hilfsgelder für Ungarn wegen Rechtsstaatsverstössen eingefroren hat. Orban hatte fest mit diesen Milliarden aus Brüssel gerechnet, als er im Frühling seine enormen Wahlkampfgeschenke verteilte. Die Wahlen gewann er damit zwar, aber jetzt geht ihm das Geld aus.
Kata wird oft missbraucht
Dabei hat der «Viktator» (wie er von seinen Gegnern oft genannt wird) gute Gründe, die Kata-Besteuerung zu reformieren. Denn erstens sind viele Kata-Kleingewerbler schlecht versichert. Sie bekommen später nur eine lausige Altersrente.
Zweitens sind sie steuerlich privilegiert (fünf Prozent Unternehmenssteuer) gegenüber den normal besteuerten Firmen (neun Prozent). Und: Kata wird oft missbraucht. Firmen beschäftigen billige «Kata-Tagelöhner» statt Personal ordentlich einzustellen und zu entlöhnen.
Doch warum hat die Regierung angesichts dieser Argumente die Steuerreform mit einem Überraschung-Coup über Nacht eingeführt? «So haben die Demonstranten wenig Zeit, dagegen zu protestieren», sagt Politologe Nagy. Doch Orbans Rechnung ging nicht auf. Die Demonstrationen gehen weiter.
Trotz allem: Ministerpräsident Orban und seine Fidesz-Partei sitzen fest im Sattel. Doch ihre Popularität erodiert. Mittlerweile hat Orban weitere Wahlkampfversprechen gebrochen: Die Preisdeckel auf Benzin und Gas werden abgeschafft. Die Wohnnebenkosten werden im Herbst explodieren. Die Teuerung liegt jetzt schon bei 14 Prozent.
Nach dem klimatisch heissen Sommer droht Ungarn ein politisch heisser Herbst.