Es gibt zwei Szenen aus diesen Tagen, die Alexander Lukaschenkos widersprüchliche Lage gut zusammenfassen: Bei der einen steht er auf einer Bühne vor Arbeitern einer staatlichen Lastwagen-Fabrik und will eine Rede halten. «Hau ab, hau ab, hau ab!», ruft die Menge. Lukaschenko kann es nicht fassen: Er ringt buchstäblich um Worte. Das Volk hat sich von ihm abgewendet. Die Aura seiner Macht hat sich gleichsam aufgelöst.
In der anderen Szene, nur wenige Stunden später, trifft Lukaschenko auf ein paar einfache Arbeiter. Er tätschelt einem auf die Schulter: «Bist du verheiratet? Hast du Kinder?», fragt der Staatschef jovial. Die jungen Männer sind verlegen, lächeln. Und müssen sich dann von Lukaschenko einen Vortrag anhören. Quintessenz: Politik sei etwas für Profis, das Volk, einfache Arbeiter sollten besser in der Fabrik ihren Job machen. Da blitzt der alte Lukaschenko wieder auf: patriarchal, demagogisch – mit absolutem Herrschaftsanspruch.
Richtig demokratisch waren die «Wahlen» nie
Seit 26 Jahren regiert Alexander Lukaschenko Weissrussland. Mehrfach hat er sich vom Volk wiederwählen lassen. Richtig demokratisch waren diese «Wahlen» nie, aber das weissrussische Volk hat sie geschluckt. Bis jetzt. Die groben Fälschungen der diesjährigen Präsidentschaftswahl, die Festnahmen von Oppositionskandidaten, das brutale Vorgehen gegen Demonstrierende hat die Menschen gegen den Langzeitherrscher aufgebracht.
Die Demonstrationen vom vergangenen Sonntag haben es gezeigt: Weissrussland ist in Aufruhr. Hunderttausende im ganzen Land sind aus Protest auf die Strasse gegangen, inzwischen streiken die Arbeiterinnen und Arbeiter zahlreicher Staatsbetriebe.
Der Apparat steht nach wie vor zum Chef
Am Ende ist Lukaschenko aber nicht. Erstens, weil er selbst an seinem Machtanspruch festhält. Er behauptet einfach, er sei der legitim gewählte Präsident. Stimmt zwar nicht, tut er aber. Zweitens, weil Sicherheitskräfte und Staatsapparat immer noch zu ihm halten.
Ein gutes Beispiel dafür: Am Montagabend zogen tausende Demonstrantinnen und Demonstranten vor das berüchtigte Okrestina-Gefängnis in Minsk. Sie forderten die Freilassung von politischen Gefangenen, die dort unter fürchterlichen Bedingungen festgehalten werden. Doch die schwere Eisentür blieb zu. Polizisten, Wärter, Geheimdienstler denken nicht daran, auf die Forderungen einzugehen.
Und so ist es auch andernorts: Sicherheitskräfte bewachen weiterhin strategisch wichtige Orte, Fabrik-Direktoren drohen streikenden Arbeitern, Bürgermeister weigern sich, mit dem aufgebrachten Volk zu sprechen. Der Apparat steht nach wie vor zum Staatschef.
Das Volk braucht einen langen Atem
Es ist das Wesen autoritärer Regime, dass die Meinung des Volkes irrelevant ist. Wenige herrschen über viele, weil sie Macht, Geld und Waffen haben. Das ist das, was in Weissrussland derzeit zu beobachten ist.
Wenn die Menschen im Land Lukaschenko besiegen wollen, müssen sie sein System besiegen und dafür braucht es – nach allem, was sich im Moment sagen lässt – einen langen Atem.