Pushbacks in Bulgarien - Eingesperrt und misshandelt an der EU-Aussengrenze
Beamte an der bulgarischen EU-Grenze gehen illegal gegen Flüchtlinge vor. Das zeigen Recherchen von SRF Investigativ zusammen mit Lighthouse Reports. Bulgarien betreibt ein inoffizielles Gefängnis. Auf Flüchtlinge soll auch geschossen worden sein.
Es ist eine Baracke mit Eisenstäben. Am Boden Abfall, auf Kartonfetzen kauern Flüchtlinge. In diesem inoffiziellen Gefängnis mitten in der bulgarischen Kleinstadt Sredez hält die Grenzpolizei Migranten und Migrantinnen fest, die von der Türkei her nach Bulgarien gelangten. Stunden-, teils tagelang, ohne Essen oder Trinken, spärlich bekleidet.
Das Recherchekollektiv, dem SRF Investigativ angehört, konnte mit versteckten Kameras belegen, dass die Baracke seit Monaten benutzt wird – auch bei tiefen Temperaturen und Regen. Vor Ort sind bulgarische Grenzpolizisten in grünen Uniformen präsent. Vier Geflüchtete, mit denen das Rechercheteam gesprochen hat, haben das inoffizielle Gefängnis auf unserem Bildmaterial erkannt: Sie seien dort festgehalten worden.
Eine internationale Recherche
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Die Recherche wurde von SRF Investigativ gemeinsam mit Lighthouse Reports, Domani, Sky News, Le Monde, Der Spiegel, RFE/RL Bulgaria und ARD Monitor durchgeführt. Den Bericht können Sie hier nachlesen.
Bulgarien agiert illegal
Was Bulgarien in Sredez macht, ist mehrfach illegal. Das osteuropäische EU-Land müsste Flüchtlinge in offiziellen Einrichtungen unterbringen, die eine menschenwürdige Unterbringung erlauben und staatlicher Kontrolle unterstehen. «Diese inoffiziellen Baracken erfüllen diese Kriterien natürlich nicht», sagt Sarah Progin-Theuerkauf, Professorin für Migrationsrecht an der Universität Freiburg.
Gleichzeitig dürfte Bulgarien die Geflüchteten nicht einfach einsperren und müsste ihnen die Möglichkeit geben, Asyl zu beantragen. Stattdessen reagiert die Grenzpolizei oft mit «Pushbacks»: Etliche Flüchtlinge werden nach eigenen Aussagen ohne Anhörung direkt über die Grenze zurückbefördert.
Pushbacks an der EU-Aussengrenze
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Flüchtlingen steht das Recht zu, nach einem Grenzübertritt Asyl zu beantragen. Das Zurückdrängen von Migranten und Migrantinnen über die Grenze, ohne deren individuelle Situation zu prüfen, ist deshalb in vielen Fällen illegal. Diese Pushbacks, die nicht selten mit Gewalt durchgesetzt werden, sind an der EU-Aussengrenze kein neues Phänomen. Griechenland, Italien, Spanien oder Kroatien wurden dafür in den letzten Jahren verschiedentlich in offiziellen Berichte oder Gerichtsurteilen kritisiert.
Von Gewalt und Schikane begleitet
Viele Geflüchtete, mit denen das Recherchekollektiv an der türkisch-bulgarischen Grenze spricht, berichten von Gewalt durch Grenzpolizisten und -polizistinnen. Javed etwa sagt: «Sie halten uns fest, schlagen uns, nehmen uns unsere Kleidung und Schuhe. Es ist Erniedrigung pur. Ich hatte ausser Unterhosen nichts mehr an.» Andere berichten, dass Beamte ihnen die Augenbrauen abrasierten, Hunde auf sie los liessen, Geld und Handys wegnahmen und Frauen sexuell belästigten.
Ist die EU-Grenzschutzagentur Frontex involviert?
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Bulgarien ist seit 2007 Mitglied der EU und auch an die Dublin-Regeln gebunden. Die EU hat die bulgarische Grenzpolizei etwa in den Jahren 2015 bis 2020 mit rund 320 Millionen Euro unterstützt. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex, die auch von der Schweiz mitfinanziert wird, ist in Bulgarien mit Beamten und Fahrzeugen vor Ort. In Sredez etwa, wo die Baracke mit den Eisenstäben steht, sind gemäss unseren Recherchen zehn Frontex-Polizistinnen und Polizisten im Einsatz. Auch neben dem inoffiziellen Gefängnis konnte das Recherchekollektiv um SRF die Präsenz von Frontex belegen: Ein Auto der Grenzschutzagentur war mehrmals direkt neben der Baracke parkiert. Damit konfrontiert, schreibt Frontex: Die eigene Grundrechts-Abteilung werde sich den Fall genau anschauen. Frontex-Beamte seien spezifisch in Menschenrechtsanliegen ausgebildet und grundsätzlich nicht in Asylverfahren in Bulgarien involviert.
Auch Schusswaffen im Einsatz
Die Polizeigewalt an der bulgarischen Grenze kennt noch eine zusätzliche Dimension: Mehrere Flüchtlinge berichten, dass Beamtinnen und Beamte Schusswaffen einsetzten. So sagt ein Teenager: «Sie schiessen in die Luft. Aber in letzter Zeit schiessen sie auch auf Leute. Einem haben sie ins Bein geschossen.»
Die Aussagen werden unter anderem von einem Video gestützt, das erstmals zeigt, wie ein Flüchtling direkt an der EU-Grenze von einer Kugel getroffen wird. Ob tatsächlich bulgarische Offizielle geschossen haben, lässt sich allerdings nicht abschliessend verifizieren.
Das weiss man zum Schusswaffeneinsatz
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Gegenüber dem Recherchekollektiv haben mehrere Flüchtlinge von insgesamt mindestens fünf verschiedenen Vorkommnissen erzählt, bei denen Migranten an der türkisch-bulgarischen Grenze in den letzten Wochen angeschossen wurden. In zwei Fällen konnte das Recherchekollektiv die Opfer ausfindig machen und eruieren, dass sie tatsächlich angeschossen wurden.
Einer ist der 19-jährige Abdullah, der heute wieder in Syrien ist und durch die Schussverletzung nach wie vor stark beeinträchtigt ist. Die Rekonstruktion des Vorfalls durch Handyvideos und medizinische Berichte eines lokalen türkischen Spitals belegen, dass Abdullah tatsächlich Anfang Oktober wenige Meter vom Grenzzaun entfernt von einer Kugel seitlich in den Arm und in den Brustkorb getroffen wird. Abdullah beschuldigt die bulgarische Grenzpolizei, direkt auf ihn geschossen zu haben. Auch ein audioforensisches Gutachten des Schusses deutet darauf hin, dass die Kugel von bulgarischer Seite des Grenzzauns her abgefeuert wurde. Auf Videos sind, kurz, bevor Abdullah getroffen wird, Fahrzeuge hinter dem Zaun auszumachen, die der Grenzpolizei zugerechnet werden können.
Dem Schuss soll ein Pushback und eine Auseinandersetzung zwischen den Beamten und einer Migrantengruppe vorausgegangen sein. Ob ein Beamter geschossen hat, ist nicht abschliessend verifizierbar. Die bulgarischen Behörden weisen die Vorwürfe zurück. Sie seien an dem Tag zwar vor Ort gewesen, hätten aber keine Schusswaffen eingesetzt.
Bulgarien weist Vorwürfe zurück
Die bulgarischen Behörden erwidern auf die verschiedenen Vorwürfe: Sie würden keine Schusswaffen einsetzen und hielten sich an das geltende Recht. Auch würden die Migranten und Migrantinnen selber oft sehr gewalttätig vorgehen, etwa Steine nach den Beamten und Beamtinnen werfen. In den letzten Wochen sei ein Polizist bei seiner Tätigkeit für den Grenzschutz ums Leben gekommen. Auf die Vorwürfe des illegalen Festhaltens in der baufälligen Baracke haben die Behörden nicht reagiert.
Bulgarien als Hotspot der Migration
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Die Route von der Türkei nach Bulgarien ist bei Flüchtlingen derzeit so beliebt wie kaum je zuvor. Im laufenden Jahr sind laut Behördenangaben 153’460 Versuche illegaler Grenzübertritte verzeichnet worden – viermal mehr als im selben Zeitraum 2021. Bulgarien ist bereits EU-Mitglied und muss unter anderem die Dublin-Regeln zum Asylwesen befolgen. Gleichzeitig bewirbt sich Bulgarien derzeit darum, in den Schengenraum, dem auch die Schweiz angehört, aufgenommen zu werden. Damit würden die Personenkontrollen an den Grenzen von Bulgarien zur restlichen EU wegfallen und die Polizei- und Justizzusammenarbeit weiter verstärkt. Heute und morgen (8. und 9. Dezember) wollen die Schengenmitgliedsländer über die Aufnahme entscheiden.
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