Solche Kritik muss sich Wladimir Putin selten gefallen lassen: «Wenn die Regierung so weitermacht wie jetzt, gibt es Revolten. Sie richtet sich selbst zugrunde und mit ihr das ganze Land», warnt ein pausbäckiger Mann mit schneeweissem Kinnbart auf Youtube.
Es ist kein liberaler Oppositioneller, der Russlands Regierung so heftig anprangert, sondern Igor Girkin – Kampfname Strelkow. Die Regierung tue alles, um den Krieg zu verlieren, fährt der Nationalist bitter fort im Interview mit einem Moskauer Unternehmer.
Vor allem die jüngsten Niederlagen der russischen Streitkräfte haben Girkin zur Weissglut getrieben: «Der Kopf des Fisches ist völlig verrottet», sagte er kürzlich dazu.
Unser Präsident hat dafür bis heute keine Verantwortung übernommen. Stattdessen schiebt er alles dem Verteidigungsministerium zu. Das ist Blödsinn.
Putin behaupte, alles laufe nach Plan. Dabei sei der Sieg über die Ukraine gar nicht mehr möglich, so Girkin. Und weiter: «Unser Präsident hat dafür bis heute keine Verantwortung übernommen. Stattdessen schiebt er alles dem Verteidigungsministerium zu. Das ist Blödsinn.»
Putins Kalkül
Die meisten Kritiker Putins sind entweder im Gefängnis oder im Exil. Igor Girkin aber weilt in Moskau, wo es nahezu komplett verboten ist, die sogenannte Spezialoperation in der Ukraine zu hinterfragen. Warum lässt man den Nationalisten Girkin also gewähren?
Viele in der russischen Regierung würden Girkin liebend gerne zum Schweigen bringen, sagt der Politologe Mark Galeotti, ein Kenner des russischen Geheimdiensts. Das gelte nicht nur für Girkin, sondern für eine ganze Szene von nationalistischen Bloggern, die Russlands Kriegsführung offen kritisierten.
Diese Leute sprechen das aus, was viele im Militär und im Geheimdienst selber denken.
Doch vorerst geht Putin nicht gegen diese Szene vor, und das aus gutem Grund, so Galeotti: «Diese Leute sprechen das aus, was viele im Militär und im Geheimdienst selber denken.» Viele teilten Girkins Ansicht, beim Einsatz in der Ukraine werde gepfuscht. Diese Leute wolle der Kreml nicht verärgern, indem er Girkin beseitige – denn ausgerechnet auf sie verlasse er sich, um an der Macht zu bleiben.
In der Tat gehen viele Expertinnen und Experten davon aus, dass nationalistisches Gedankengut nach dem Muster von Girkin im russischen Geheimdienst verbreitet ist. Auch deshalb habe sich der ehemalige KGB-Offizier Putin zur Invasion des Nachbarlands verleiten lassen.
Das Debakel in der Ukraine stelle ihn nun vor ein kniffliges Problem. Putin hoffe, Leute wie Girkin durch Kriegserfolge wieder an Bord holen zu können. Genau darum komme Girkin den Falken im russischen Staatsapparat gelegen. Denn mit seiner viel beachteten Kritik treibe er die Regierung zu radikalerem Vorgehen in der Ukraine und verschiebe die Grenze des Sagbaren.
Trotzdem eine Gefahr für Putin?
Nicht zufällig bezeichnen einige Girkin mittlerweile als «letzte Opposition» Russlands. Politologe Galeotti hält es für unwahrscheinlich, dass Girkin Putin gefährlich werden kann. Sollte es jedoch dereinst zu einem Aufstand gegen Putin kommen, werde ein solcher am ehesten von Gleichgesinnten Girkins ausgehen.
In Moskau wird Girkin offen gefragt, ob er einen Putsch gegen Putin plane. Er habe keine derartigen Pläne, antwortet er darauf jeweils gelassen. Ob er sich doch wieder hinter Putin und die russische Regierung stellt, dürfte sich an der Front in der Ukraine entscheiden.