Die Bilder triumphierender ukrainischer Soldaten sorgen auf der Gegenseite in Russland für Unverständnis und immer unverhohlenere Kritik – auch gegen Präsident Wladimir Putin. In den letzten Tagen mehren sich aus politischen Kreisen Stimmen, welche die Kriegsführung des Kremlchefs bemängeln.
Unweit vom St. Petersburger Smolny Palast hat einst der junge Wladimir Putin gewohnt. Und ausgerechnet kommunale Abgeordnete aus diesem Stadtteil verlangen nun offiziell den Rücktritt des russischen Präsidenten. Nikita Juferew hat das entsprechende Schreiben an das russische Parlament auch gutgeheissen.
Wir fordern offiziell den Rücktritt Putins – wegen Hochverrats.
Die militärische Spezialoperation schade Russland und der Ukraine massiv, betont der Abgeordnete. Da sprächen die offiziellen Zahlen der UNO aus der Ukraine für sich. «Sechs Millionen Menschen mussten ihr Heim verlassen und können nicht zurück. Und es gibt bereits über 5000 tote Zivilisten, darunter über 300 Kinder. Darum haben meine Kollegen und ich entschieden, offiziell den Rücktritt Putins zu fordern – wegen Hochverrats», sagt Nikita Juferew.
Für seine Aussagen wurde der Abgeordnete in St. Petersburg bereits zu einer Geldstrafe verurteilt. Öffentlich den Frieden verlangen – das ist inzwischen gefährlich in Russland. Eine Mehrheit der Russen wolle mit dem Krieg in der Ukraine so wenig wie möglich zu tun haben, sagen Soziologen.
Die einen wollen Frieden, die anderen mehr Krieg
Nikita Juferew sieht die Rücktrittsforderung an Putin als einen Weckruf an die Gesellschaft. Er rufe die Leute nicht zu Protesten auf, das sei wegen drohender Gewalt und Verhaftungen zu gefährlich. Doch Juferew betont: «Wir müssen andere Formen des Protestes finden. Je mehr Menschen solche Aktionen unterstützen, desto schneller verstehen Putin und die Gesellschaft, dass jetzt Schluss sein muss.»
Frieden wollen die einen – mehr Krieg die anderen. Nationalistisch und imperialistisch gesinnte Russinnen und Russen verlangen: Russland müsse viel mehr für den Sieg tun, etwa mehr Waffen und mehr Soldaten einsetzen. Dass sich der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski als Sieger feiern lässt, versetzt die Russen in Rage.
Man kämpfe eigentlich nicht gegen die Ukrainer, sondern vor allem gegen den Westen, schreibt Frontberichterstatter Alexander Kots von der regierungsnahen Boulevardzeitung «Komsomolskaja Prawda». «Ob ich wirklich glaube, dass wir gegen die Nato kämpfen? Ja, das glaube ich. Dieser Konflikt hat eine existenzielle Phase erreicht, einen Kampf ums Überleben. Entweder wir gewinnen oder es gibt uns nicht mehr.» So klingt es aus dem nationalistisch-imperialistischen Lager. Ihnen ist die russische Militärführung zu zurückhaltend.
Jetzt geht es nicht mehr ohne Kriegsrecht, ohne eine zumindest teilweise Mobilmachung.
Fast schon den «totalen Krieg» verlangt der bekannte und berüchtigte russische Publizist Igor Girkin. «Jetzt geht es nicht mehr ohne Kriegsrecht, ohne eine zumindest teilweise Mobilmachung, ohne auf den Krieg ausgerichtete Industrie und Transportsysteme. Die Spezialoperation haben wir schon verbockt. Wir riskieren, auch den Krieg zu verlieren», betont Girkin.
Sichtbar sind die Proteste in Russland nicht. Sie finden fast ausschliesslich in den sozialen Netzwerken statt. Wladimir Putin und seine Entourage scheinen fest im Sattel zu sitzen. Doch der Druck dürfte stetig zunehmen. Insbesondere, wenn die Nachrichten von der Front negativ bleiben und die Wirtschaft noch mehr Schaden nimmt.