Der Zug hält in der Stadt Schelesnodoroschny. Vera ist gekommen, um ihren Vater zu besuchen. Sie hat ihn seit Monaten nicht mehr gesehen. Als der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, hat sie ihre Heimat verlassen.
Als Vera und ihr Vater Sergej sich auf dem Perron treffen, umarmen sie einander lange und wortlos. Vera und Sergej sind nicht ihre echten Namen.
Schelesnodoroschny bedeutet «Eisenbahn-Ort», der Name kommt von den Bahnarbeitern, die zu Sowjetzeiten hier angesiedelt wurden. In solchen, von hohen Wohnblocks geprägten Satellitenorten, weit weg von den Luxusboutiquen Moskaus, leben die allermeisten Russinnen und Russen.
«In Russland gibt es keine Perspektiven»
Vera, 29 Jahre alt, erzählt von Serbien, wo sie jetzt lebt. Und sie sagt, warum sie ausgereist ist. «In Russland ist es jetzt schwierig, ich will in einem friedlichen Land leben, und nicht in einem, dass sich gegen die Welt stellt.»
Sergej, 57, kann den Entscheid seiner Tochter verstehen. «Ich habe immer gesagt, in Russland gibt es keine Perspektiven», sagt er. «Hier schafft man es nur nach oben, wenn man einflussreiche Freunde hat. Und wer oben ist, der stiehlt.»
Vera ist auch zurück nach Russland gekommen, weil sie wählen will. Sie plant, am Sonntag um 12 Uhr abzustimmen – die Opposition hat dazu aufgerufen, sich am Mittag bei den Wahllokalen versammeln. Die Andersdenkenden wollen vor allem einander zeigen, dass sie nicht allein sind. Vera weiss noch nicht, ob sie einen der chancenlosen Gegenkandidaten wählt oder ihren Zettel leer abgibt.
«Das Wichtigste ist, dass Putin weniger als 50 Prozent der Stimmen kriegt», sagt sie. «Das wird nicht passieren», unterbricht sie Sergej. Er sagt, er werde auch an die Urne gehen, auch wenn das nichts ändern werde. «Meine Stimme ist nichts wert», sagt er. «Alles wird im Vorhinein, von oben entschieden.»
«Egal, wer an die Macht kommt – die Macht frisst ihn auf»
Putin werde auch er nicht wählen, sagt Sergej, zu lange habe er in dessen korruptem System gelebt. Putins Aussenpolitik hingegen unterstützt er vehement. «Die ukrainische Nation muss vernichtet werden», sagt er. «Sie müssen von der Erdoberfläche verschwinden. Sie waren schon immer gegen die Russischsprachigen, ihr Leben lang.»
Von solchen Aussagen ist Vera schon lange nicht mehr schockiert. Sie weiss, dass ihr Vater bei aller Politikverdrossenheit Meinungen vertritt, die in Russland gar nicht unüblich sind. «Du klingst wie Hitler», sagt sie. «Was ich sage, ist richtig», so Sergej. «Also hatte Hitler recht?», fragt Vera zurück.
Ihre Vorstellung von der Zukunft des Landes sei ganz anders als die ihres Vaters, sagt sie. «Der Krieg muss aufhören, Putin muss weg, und das System muss komplett umgebaut werden», sagt Vera.
Sergej glaubt nicht daran, dass sich in Russland etwas verändern kann. «Egal, wer an die Macht kommt – die Macht frisst ihn auf, er verändert sich», sagt er. Russland werde ein Chaos bleiben. Das Land sei schlicht zu gross. Vera fährt zurück nach Moskau. Sie und ihr Vater umarmen sich am Bahnhof. «Ich liebe dich», sagt sie, und dreht sich um.