Allein im Grossraum Stockholm kommt es zuletzt in wenigen Stunden zu fünf Gewaltverbrechen, ausgeübt von Mitgliedern verschiedener Drogenclans. Dabei wird ein Mann erschossen. «Die Bandenkriminalität eskaliert», warnt Ministerpräsident Ulf Kristersson am Samstag im Sender SVT.
Die Regierung indes steht selbst unter Beschuss. Politiker und Beamte werfen ihr «Totalversagen» vor. Dabei hat Schweden in ganz Europa die rigideste Drogengesetzgebung. Zu diesem scheinbaren Widerspruch sagt SRF-Korrespondent Bruno Kaufmann: «Zwar sind die schwedischen Drogengesetze strikt. Doch es fehlt an Personal, diese auch durchzusetzen. Und stattdessen ist der Drogenhandel hoch lukrativ.»
Andere Vorwürfe von Kritikern zielen auf eine scheinbar unkontrollierte Einwanderung. Tatsächlich stammen einige der Clan-Mitglieder aus Einwandererfamilien. Dem hält Kaufmann entgegen: «Von unkontrollierter Einwanderung kann in Schweden, abgesehen von einigen Wochen im Herbst 2015 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, keine Rede sein.»
Stattdessen führt der SRF-Korrespondent die Siedlungspolitik der 1960er- und 1970er-Jahre als Grund für die grassierende Bandengewalt ins Feld: «Auf den grünen Wiesen im Umfeld der Grossstädte wurden isolierte Betonsiedlungen aus dem Boden gestampft. Sie bergen heute viel soziale Sprengkraft.»
In Schweden zeigen sich die Folgen jahrzehntelanger politischer Misswirtschaft in der Siedlungs- und Drogenpolitik.
Die Siedlungspolitik mag auch erklären, warum die Clan-Mitglieder immer jünger werden, teils gar minderjährig sind. In den Betonvororten der Grossstädte gibt es wenig Perspektiven für Jugendliche. Kaufmann sieht aber noch einen weiteren Grund, warum die Täter immer jünger werden: «Die schwedische Gesetzgebung nimmt jugendliche Täter von zu harten Strafen aus. Das nutzen die Banden aus, welche immer jüngere Mitglieder im Drogenhandel und bei der Bekämpfung rivalisierender Gangs einsetzen.»
Justiz und Polizei machen schwache Figur
Die Polizei hat ein Bündel an Massnahmen angekündigt, um der explosiven Lage wieder Herr zu werden. 190 Beamte aus anderen Landesteilen werden zur Unterstützung nach Stockholm geschickt. Und Justizminister Gunnar Strömmer will die Möglichkeiten zum Abhören mutmasslicher Täter ausweiten.
SRF-Korrespondent Kaufmann ist skeptisch: Abgesehen davon, dass einige erwogene Massnahmen rechtsstaatlich problematisch seien, mahnt er an, dass die Polizei nicht über genügend und über genügend gut verteiltes Personal verfüge. «Die schwedische Polizei wurde in den letzten Jahren buchstäblich schwachgespart und gleichzeitig zentralisiert. An vielen Orten des Landes gibt es kaum noch eine Polizeipräsenz.»
Nicht wenige kritische Stimmen greifen in diesem Zusammenhang den Ministerpräsidenten persönlich an – der im Oktober 2022 ausdrücklich versprochen hat, die Bandengewalt in den Griff zu bekommen. Laut Kaufmann greift die Kritik an der Personalie Kristersson indes zu kurz: «Die Probleme sind vielfältig und komplex und liegen zum Teil sehr lange zurück. Regierungen mit verschiedenen politischen Ausrichtungen haben sich an der Bandenkriminalität immer wieder die Zähne ausgebissen.»
Dem ungeachtet will Kaufmann die Regierung mit ihrem Chef Ulf Kristersson mitnichten aus der Verantwortung entlassen: «Die Polizei ist überfordert. Und die Regierung wäscht die Hände noch in Unschuld, weil sie erst seit wenigen Monaten im Amt ist.»