Schon den ganzen Nachmittag wird auf dem Ballhausplatz in Wien lautstark demonstriert und gefeiert. Ursprünglich war eine Erklärung von Bundeskanzler Sebastian Kurz um 14 Uhr geplant. Doch seither wartet ganz Österreich.
Warum lässt sich Kurz so viel Zeit?
Vizekanzler Heinz-Christian Strache und Fraktionschef Johann Gudenus von der rechtsnationalen FPÖ sind heute Mittag nach der Veröffentlichung eines kompromittierenden Videos zurückgetreten. Bundeskanzler Sebastian Kurz muss jetzt entscheiden, ob er nach diesen Rücktritten mit der FPÖ weiterregiert oder Neuwahlen ausruft. Doch Kurz lässt Österreich warten mit seinem Entscheid. Und das ganz Land fragt sich warum.
Mögliche Gründe: Sebastian Kurz gilt als Stratege, nicht als Instinktpolitiker. Kurz ist nicht der Typ, der in der Krise aus dem Bauch heraus reagiert und entscheidet. Politkenner in Österreich vergleichen ihn öfter mit einem Schachspieler, der Strategien für jede Entwicklung ausheckt und seinen Gegnern dadurch gedanklich meist einen Schritt voraus ist. Die jüngste Krise aber hat ihn scheinbar völlig unerwartet getroffen. Im veröffentlichten Video ist zu sehen, wie zwei führende Köpfe der FPÖ einer vermeintlichen Nichte eines russischen Oligarchen Staatsaufträge versprechen, wenn sie der Partei über einen Verein Geld zukommen lässt – der Archetyp der politischen Korruption.
Dass sich Kanzler Sebastian Kurz mit dem Entscheid «Weiterregieren oder Neuwahlen» so schwer tut, legt auch offen, dass er ganz plötzlich schwer unter Druck ist. Regiert er weiter mit der desavouierten FPÖ, dann wäre auch die Glaubwürdigkeit der Regierung schwer beschädigt. Entscheidet er sich dagegen für Neuwahlen, dann gesteht Kurz ein, dass sein Entscheid mit der FPÖ zu regieren eine grosse Fehleinschätzung war.
Gegenwind ist sich Kurz nicht gewohnt
Neuwahlen bergen auch das Risiko, dass die regierende Volkspartei ÖVP wieder (wie bis 2007) mit den Sozialdemokraten (SPÖ) regieren müsste. Doch das Herzstück der Politik von Kurz ist die restriktive Flüchtlingspolitik, und für die würde sich die SPÖ kaum einspannen lassen. Im Klartext: Kurz steht vor der Entscheidung zwischen zwei äusserst riskanten Optionen und das ist er sich nicht gewohnt. Der 32-Jährige galt bisher als politisches Wunderkind, der kaum Rückschläge einstecken musste. Die jüngste Krise droht jetzt auch ihn als Verlierer auszuspucken.
Derzeit laufen offenbar zahlreiche Gespräche mit dem Koalitionspartner FPÖ und mit den in Österreich traditionell mächtigen Länderobmännern (Regierungschefs der Bundesländer). Je länger Kanzler Kurz auf seinen Entscheid warten lässt, desto mehr Kritik wird gegen ihn laut. Die letzte Ankündigung war eine Medienerklärung von Kanzler Kurz um 19.45 Uhr.