Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie. Das sind die Verheissungen der katalanischen Separatisten. Das ist die politische Währung der Unabhängigkeitskämpfer – und der gestrige Tag hat gezeigt, dass die nicht so schnell an Wert verliert.
Wenn das halbe Volk in Aufruhr und in Kampfstimmung ist, ist nicht anzunehmen, dass just diese Leute zu Hause bleiben, wenn sie der verhassten Zentralregierung die Faust zeigen können. Sie sind wählen gegangen und haben ihren Parteien erneut eine Parlamentsmehrheit verschafft.
Die Wirren der letzten drei Monate haben im Lager für die Unabhängigkeit nicht demobilisiert. Sie haben das Feuer angefacht und den Anhängern der Unabhängigkeit Auftrieb gegeben. Die Polizeigewalt bei der Abstimmung am 1. Oktober und später die Verhaftung von Anführern der Bewegung wirkten als Beweise dafür, dass Spanien die Katalanen unterdrückt. Der Verfassungsparagraf 155 gab den Rest: jener Passus also, welcher der Zentralregierung das Recht zur Intervention in den autonomen Regionen gibt.
Ministerpräsident Rajoy nahm sich mehr Rechte, als tatsächlich in der Verfassung stehen. Er löste das Parlament auf und rief Neuwahlen aus. Gründlicher hat er sich nie verrechnet. Er hat «seine» Katalonien-Wahlen an die Separatisten verloren, und seine Partei wurde in Katalonien aufgerieben: Von ohnehin nur mageren elf Sitzen sind ihr ganze drei geblieben.
Tatsächlich hat Rajoy nicht erst in jüngster Zeit falsch kalkuliert. Er lag jahrelang falsch in der Katalonienfrage. Er delegierte das Thema an die Richter. Er verweigerte den Dialog und entwickelte keine politische Antwort auf das wachsende Malaise. Er hat zugeschaut, wie die Masse jener wuchs, die weg wollten von Spanien. Und er fragte sich offenbar nie, woran es liegen könnte.
Rajoy steht vor den Trümmern seiner Politik. Und ausgerechnet jetzt wird er von den siegreichen «Ciudadanos» bedrängt, die auf einer harten Linie gegenüber den Separatisten beharren werden. Rajoy hat keinen Spielraum, er regiert in der Minderheit.
Die Führung der Unabhängigkeitsparteien ist in keiner komfortableren Lage. Jahrelang haben sie ihren Anhängern vorgemacht, die Unabhängigkeit sei gleich um die Ecke, und der Druck werde Madrid dazu bewegen einzulenken. Sie haben versichert, ein unabhängiges Katalonien «werde keine Minute ausserhalb der EU sein», und wussten, dass das nicht stimmte. Eine Studie, die sie selbst in Auftrag gegeben hatten, hat es ihnen vorgerechnet. Sie blieb in der Schublade.
Und als sie am Ende vor dem Richter zur Unabhängigkeit Stellung nehmen mussten, knickten sie ein und erklärten ihre Handlungen als rein symbolisch. Ihren Anhängern aber sagt keiner laut und deutlich, der Weg werde länger sein und beschwerlicher. Denn der alte Weg führte ins Gefängnis. Über den neuen aber hat noch niemand nachgedacht.