Die Kirche St. Georg befindet sich in einem ruhigen, grünen Quartier im Zentrum der Stadt Lwiw. Erbaut wurde das Gotteshaus Ende des 19. Jahrhunderts für die orthodoxen Gläubigen der multikulturellen Stadt. Bis vor kurzem gehörte St. Georg zur ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats. Doch das ist nun vorbei.
Im Halbdunkel der Kirche, vor der prächtigen Ikonostase, feiert Vater Oleg den Gottesdienst. Er trägt eine schwarze Robe und ein schweres goldenes Kreuz um den Hals. Die Liturgie zelebriert er in ukrainischer Sprache – und nicht mehr altkirchenslawisch, wie noch bis vor kurzem. Am 5. April dieses Jahres habe die Kirchgemeinde beschlossen, zur nationalen orthodoxen Kirche der Ukraine überzutreten, erzählt Vater Oleg. Diese ist vollkommen unabhängig von Moskau (vgl. Box). Ähnliches geschah mit den anderen zwei Kirchen in Lwiw, die noch zum Moskauer Patriarchat gehörten.
Einige der Priester hätten beim Wechsel mitgemacht, andere nicht, sagt Vater Oleg. Wo Letztere jetzt sind, weiss er nicht. Manche hätten wohl in den verbliebenen prorussischen Kirchen in anderen Regionen der Ukraine Unterschlupf gefunden. Er selbst gehört der ukrainischen Nationalkirche an und wurde im April als Vorsteher der Kirchgemeinde St. Georg eingesetzt.
Angst vor geistlichen Spionen
Hinter all dem steckt der Vorwurf, die orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats arbeite mit Russland zusammen und betreibe prorussische Propaganda. Geistliche sollen dem Feind sogar wichtige Informationen weitergegeben haben. Die Behörden haben in den letzten Monaten im ganzen Land Kirchen und Klöster durchsucht und Strafverfahren eröffnet.
Die ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats weist die Vorwürfe zurück. Sie bezog kurz nach Beginn der russischen Invasion Stellung gegen den Krieg und distanzierte sich von der russisch-orthodoxen Mutterkirche. Doch solange sie nicht komplett mit Moskau bricht, bleibt der Verdacht, dass sie im Dienste Russlands steht. Denn nach wie vor ist der russische Patriarch Kirill ihr Oberhaupt. Und Kirill ist ein vehementer Befürworter des russischen Krieges gegen die Ukraine. Er sieht Russland in einem metaphysischen Kampf des Guten gegen das Böse.
Kein Wunder, sind in der Ukraine viele orthodoxe Kirchgemeinden zur nationalen Kirche gewechselt und mit ihnen viele Gläubige. Die prorussische orthodoxe Kirche hat einen massiven Vertrauensverlust erlitten. So ging es auch dieser alten Frau, die vor der St.-Georg-Kirche auf den Priester wartet. Sie habe sich früher nie Gedanken gemacht, sagt sie: Das hier sei einfach die nächstgelegene orthodoxe Kirche gewesen, und niemand habe ihr gesagt, wohin die Spendengelder gingen – nämlich nach Moskau.
Nicht alle Kirchen lösen sich von Russland
Nur 140 Kilometer östlich von Lwiw, im Städtchen Potschajiv, erhebt sich auf einem Hügel ein prächtiges und sichtlich wohlhabendes Kloster. Es ist dem Moskauer Patriarchat unterstellt und ein wichtiges religiöses Zentrum. An diesem Sonntagmittag wimmelt es von Besuchern und Gläubigen. Eine 35-jährige, elegant gekleidete Frau ist extra aus Lwiw angereist. Sie erzählt, ihre Kirche sei geschlossen worden. Ein Übertritt zur ukrainischen Nationalkirche komme für sie nicht infrage.
Doch was tut sie, wenn auch das Kloster Potschajiv in andere Hände übergeht? Denn auch die Mönche dieses Klosters stehen unter dem Verdacht der Kollaboration mit den Russen. Die Frau sagt: «Wir werden dafür beten, dass sie uns dieses Heiligtum nicht wegnehmen. Wer das wagt, der wird schnell die Strafe Gottes spüren.» Gut möglich, dass sie damit das wiederholt, was die Geistlichen den Gläubigen predigen. Allerdings hat das Kloster Potschajiv eine wechselhafte Geschichte hinter sich und war nicht immer russisch-orthodox: Zeitweise gehörte es zur griechisch-katholischen Kirche, die in der Westukraine sehr verbreitet ist.
Mönch will nichts von Politik wissen
Und was sagen die Verantwortlichen des Klosters zur Anschuldigung, sie seien ein Sicherheitsrisiko für den ukrainischen Staat? Trotz mehrfachen Nachfragens ist niemand bereit, offiziell Stellung zu nehmen. Ein ranghoher Mönch sagt schliesslich widerwillig, die Vorwürfe der Behörden entbehrten jeder Grundlage. Ihr Kloster habe nichts mit Politik zu tun.
Gesprächiger sind drei alte Frauen, die dem weitläufigen Kloster einen Besuch abstatten. Früher habe niemand darauf geachtet, in welche orthodoxe Kirche er gegangen sei, sagen sie. Nun aber herrschten Zank und Feindseligkeit zwischen den Gläubigen. Der Grossangriff Russlands auf die Ukraine hat dazu geführt, dass sich das Land auch religiös vom aggressiven grossen Nachbarn loslöst. Und auch das ist mit grossen Schmerzen und Konflikten verbunden.