Die Proteste gegen die Rentenreform haben Frankreich fest im Griff. Nun hat Premier Edouard Philippe konkrete Pläne der Regierung vorgestellt – und macht den Streikenden deutliche Zugeständnisse. Reicht das, um das Prunkstück von Macrons Reformpolitik zu retten? ARD-Korrespondent Marcel Wagner hat seine Zweifel.
SRF News: Das Rentenalter soll bei 62 bleiben. Dafür plant die Regierung ein Anreizsystem, damit die Leute länger arbeiten. Wie sieht das aus?
Marcel Wagner: Man darf weiter mit 62 in Rente gehen, wird aber nicht die volle Rente bekommen. Diese dürfte es erst mit 64 geben. Wer früher in Rente gehen will, muss auf Geld verzichten. Wer in dem Bonus-/Malussystem über 64 hinaus arbeitet, erhält eine höhere Rente.
Das neue System soll neu erst bei Jahrgängen ab 1976 gelten. Was bedeutet, dass bis 2037 nach altem System verfahren wird. Kann sich Frankreich das leisten?
Das glaubt zumindest die Regierung. Frankreich wendet schon heute 14 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für sein Rentensystem auf. Im OECD-Vergleich ist das ein Spitzenwert. Das lässt sich noch finanzieren, weil Frankreich demografisch gut aufgestellt ist. Es hat eine hohe Geburtenrate und damit verhältnismässig viele Menschen, die in das Rentensystem einzahlen.
Die Regierung sagt aber, dass sich absehen lässt, dass das Verhältnis von Einzahlern und Menschen, die Rente bekommen, künftig deutlich schlechter wird. Sie will die Weichen für ein nachhaltiges System stellen, ist aber nicht gezwungen, die Reform schon morgen umzusetzen.
Trotz dem Entgegenkommen der Regierung sind die Gewerkschaften unzufrieden.
Ihnen ist schwer aufgestossen, dass die Menschen erst mit 64 in Rente gehen sollen. Sie lehnen die Reform ja insgesamt in Bausch und Bogen ab. Der Chef der extrem linken Gewerkschaft CGT hat erneut betont, Frankreich habe bereits das beste Rentensystem der Welt. Dieses solle weiterentwickelt werden, statt ein neues System aufzugleisen.
Es zeichnet sich ab, dass sich alle Gewerkschaften gegen die Reform verbünden könnten. Geschieht das, wird es schwierig.
Sind sich die Menschen bewusst, dass Frankreich eines der tiefsten Renteneintrittsalter Europas hat und auch sie immer älter werden?
Auch die Demonstranten geben zu, dass sie ein extrem komfortables Rentensystem haben. Sie sehen darin aber eine Errungenschaft des Sozialstaates und hinterfragen, warum diese aufgegeben werden soll. Deshalb haben die Gewerkschaften dazu aufgerufen, die Streiks gegebenenfalls noch auszuweiten.
Was geschieht nun mit dem Reformvorschlag?
Die Regierung drückt aufs Tempo. Der Vorschlag soll bis Ende Jahr fertig ausgearbeitet sein, Mitte Januar ins Kabinett gehen und schon im Februar in den Parlamenten landen. Die Regierung hofft mit diesem Sprint, dass den Gewerkschaften die Puste ausgeht, wenn sie vor vollendete Tatsachen gestellt werden.
Kann die Regierung damit durchkommen?
Sie hat schon andere schwierige Reformen durchgebracht, etwa die des Arbeitsmarktes oder der Staatsbahn SNCF. Es zeichnet sich aber ab, dass sich alle Gewerkschaften gegen die Reform verbünden könnten. Geschieht das, wird es schwierig. Die Regierung hat aber keine Wahl: Die Reform war ein Wahlversprechen von Macron. Man wird sie durchdrücken müssen – koste es, was es wolle.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.