Ein Flugzeug unter der Vortäuschung eines drohenden Anschlags zur Landung zu zwingen, gehört in die Werkzeugkiste von Geiselnehmern und Terroristen. Menschen aus politischen Motiven in Todesangst zu versetzen, ebenfalls.
Präsident Alexander Lukaschenko, der seit 1994 durchgehend in Belarus an der Macht ist, hat sich am Pfingstsonntag genau dieser Werkzeuge bedient. Damit hat er sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit in die Reihe von Geiselnehmern gestellt.
Es besteht kein Zweifel, dass Lukaschenko persönlich den Befehl gegeben hat, ein Passagierflugzeug von Ryanair auf dem Flug von Griechenland nach Litauen in Minsk zu einer Zwischenlandung zu zwingen.
Aus der KGB-Trickkiste
Was sich liest wie ein Schauermärchen aus dem Kalten Krieg, ist die neue Realität in Europa. Diese lässt sich weder schön noch klein reden und schon gar nicht verschwindet sie durch bewusstes Wegschauen.
Geheimdienstmitarbeiter des KGB sollen an Bord des Flugzeuges absichtlich Streit mit der Besatzung gesucht und vor einem ausgedachten Terroranschlag gewarnt haben. Kurz vor der Grenze zwischen dem belarussischen und litauischen Luftraum wurde die Ryanair-Maschine mit Kampfjets der belarussischen Armee zur Landung in Minsk eskortiert.
Drohendes Todesurteil
Für 170 der 171 Passagiere des Ryanair-Fluges dürfte diese Erfahrung mit den belarussischen Behörden traumatisch sein. Für einen der 171 Passagiere ist die Geiselnahme durch Lukaschenko eine Bedrohung an Leib und Leben. Dem 26-jährigen Journalisten Roman Protassewitsch droht in Belarus die Todesstrafe.
Die Folter unter dem Regime von Lukaschenko ist so hinreichend dokumentiert, dass kaum Zweifel daran besteht, dass Roman Protassewitsch derzeit Todesängste ausstehen muss. Zur Fahndung ausgeschrieben wurde er wegen seiner ehemaligen Rolle als Chefredakteur des Nachrichtenkanals Nexta auf Telegram. Dieser Kanal spielte während der Protestbewegung gegen Lukaschenko im vergangenen Sommer eine entscheidende Rolle.
Sicherheitsproblem für Europa
Hat Lukaschenko bisher die Menschen auf belarussischem Boden terrorisiert, so macht er nun keinen Halt mehr vor dem Luftraum und vor europäischen Fluggesellschaften und ihren Passagieren, die zwischen europäischen Staaten unterwegs sind. Wenn die Sicherheit von Passagieren im Luftraum über Belarus nicht mehr garantiert werden kann, hat der ganze Kontinent ein Sicherheitsproblem.
Die Menschen in Belarus leben seit Jahren in einer Realität, die an George Orwells Roman «1984» erinnert. Wie bei Orwell die Formel 2 + 2 = 5 galt, so macht der belarussische Staat aus Journalisten Terroristen. Der heute vorgetäuschte Terroranschlag auf einen Ryanair-Flug wurde kurzerhand zur Rettungsaktion für die Sicherheit Europas erklärt.
In Diskussionen, wie auf die neuste Ungeheuerlichkeit von Lukaschenko reagiert werden könnte, sollte das Gegenüber beim Namen genannt werden: Alexander Lukaschenko ist nicht ein Machthaber, er ist ein Geiselnehmer.