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Tagesgespräch: Warum Chile eine neue Verfassung ablehnt
Aus Rendez-vous vom 05.09.2022. Bild: zVg
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Resultat der Abstimmung Chile lehnt eine progressive Verfassung ab, nicht aber den Wandel

Die Bevölkerung Chiles hat eine neue linke Verfassung, die darauf abzielte, das Land in eine egalitärere Gesellschaft zu verwandeln, deutlich, mit 62 Prozent Nein-Stimmen-Anteil, zurückgewiesen.

Expertinnen und Experten lobten den Entwurf als progressiv, inklusiv und umweltfreundlich. Doch vielen Chileninnen und Chilenen gingen die Vorschläge zu weit. Mehr Rechte für Indigene, mehr Umweltschutz, Recht auf Abtreibung: Alle diese Punkte waren anscheinend zu viel auf einmal. Zu feministisch, zu grün.

Grosse Teile der Bevölkerung Chiles sind immer noch sehr konservativ. Was eine weitere Ursache der Ablehnung der neuen Verfassung erklärt: Der Verfassungskonvent bestand aus grösstenteils unabhängigen und linksgerichteten Mitgliedern und wurde von denen kritisiert, die der Meinung waren, dass die Versammlung es versäumt hatte, die Ansichten der Konservativen miteinzubeziehen.

Wunsch nach neuer Verfassung bleibt

Diese starke Ablehnung einer neuen Verfassung überrascht auf den ersten Blick. Denn nach heftigen Protesten wollten vor zwei Jahren 80 Prozent der Bevölkerung eine neue Verfassung. Das ist aber kein Widerspruch: Die Chileninnen und Chilenen wollen zwar eine neue Gesellschaftsordnung, aber der Verfassungsentwurf war zu radikal.

Das chilenische Verfassungsprojekt konnte die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nicht überzeugen. Das hat auch Auswirkungen auf ganz Lateinamerika. Die Vorstellung, dass man die eigene Gesellschaft auf demokratische Art und Weise rasch mit grossen Schritten modernisieren kann, hat einen Rückschlag erlitten. Die Ablehnung in Chile wird dafür sorgen, dass der politische Wille für grosse Veränderungen auf demokratischem Weg in vielen Ländern der Region schrumpft.

Chile zurück auf Feld eins

Chile ist nun zurück auf Feld eins. Ohne Reformen wird das Land nicht zur Stabilität zurückfinden, zu offensichtlich sind die Probleme. Das Land hat die grösste Einkommensschere aller OECD-Staaten. Auch im südamerikanischen Vergleich ist die Kluft zwischen Arm und Reich in Chile riesig. Gleichzeitig ist Chile eines der Länder weltweit, in denen die Menschen am meisten Geld ausgeben für Bildung und Gesundheit.

Eine Mehrheit der Bevölkerung leidet unter diesem Zustand. Die Ablehnung der neuen Verfassung als grünes Licht zu interpretieren, um weiterzumachen, als wäre nichts passiert, wäre ein Fehler. Die Politik hat nun den zwingenden Auftrag, das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen und sich ernsthaft für das Wohl des Landes einzusetzen – den Weg zu einem gerechteren, gleichberechtigten und inklusiven Chile.

David Karasek

Journalist und Südamerika-Kenner, SRF

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David Karasek war 2021 und bis Juli 2022 Südamerika-Korrespondent von SRF. Davor war er als Produzent und Redaktor bei SRF 4 News tätig. Von 2015 bis 2018 lebte und arbeitete er bereits als freier Journalist in Kolumbien und berichtete aus Ländern wie Ecuador, Venezuela oder Kuba für mehrere Medienunternehmen. Er hat in Bogotá an der Universität Javeriana Politologie studiert und moderiert inzwischen das «Tagesgespräch» von Radio SRF.

 

Rendez-vous, 05.09.2022, 12:30 Uhr

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