Das Unterhaus hat kurzfristig die Kontrolle über seine eigenen Geschäfte übernommen und die Regierung entmachtet. 21 konservative Abgeordnete, darunter prominente Veteranen, gesellten sich am Dienstagabend zur vereinigten Opposition.
Heute Abend will diese «Rebellen-Allianz» ein Gesetz verabschieden, das eine Verschiebung des Austrittstermins auf den 31. Januar erzwingt, falls London bis zum 19. Oktober keine Einigung mit Brüssel erzielt.
Johnson hat sich verrechnet
Die Konservative Partei, bis anhin ein Sinnbild für pragmatische Flexibilität, verändert ihr Gesicht vor unseren Augen. Die 21 Rebellen sind aus der Fraktion ausgeschlossen worden und dürfen bei einer Neuwahl nicht mehr als Konservative antreten.
Doch Boris Johnson und sein unzimperlicher Berater, Dominic Cummings, hatten sich verrechnet: die einstigen Säulen des konservativen Establishments, darunter ein Grosssohn von Winston Churchill, hielten auf Kosten ihrer Karrieren an ihren Prinzipien fest. Johnson wiederholte trotzig, er werde «unter keinen Umständen» um einen Aufschub bitten.
Johnson hat sich verschätzt
Johnson beteuert, er habe Fortschritte bei seiner Suche nach einem neuen Scheidungsabkommen mit der EU erzielt – obwohl die EU dies bestreitet. Aber er könne nur Erfolg haben, wenn die Drohkulisse des ungeordneten Austritts am 31. Oktober bestehen bleibe. Folgerichtig deponierte er nach seiner Niederlage schon mal einen Antrag auf Neuwahlen.
Allein, dazu bedarf es der Zustimmung von zwei Dritteln aller Abgeordneten. Labour will nicht mitspielen: erst wenn der Absturz in den vertragslosen Zustand rechtskräftig verboten ist, könnte das Volk befragt werden. Das wird frühestens übers Wochenende der Fall sein, unmittelbar bevor das Parlament für mehr als einen Monat suspendiert wird.
Johnsons Militärsprache
Boris Johnson politisiert mit militärischen Metaphern. Er nennt Parteikollegen, die anderer Meinung sind, «Kollaborateure» und bezeichnet das geplante Gesetz als «Kapitulation». Diese Aggression widerspricht den herkömmlichen Gepflogenheiten der britischen Politik.
Ohne eine geschriebene Verfassung braucht es Augenmass, Vernunft und Anstand von allen Beteiligten, damit das System funktionsfähig bleibt. Der neue Westentaschen-Churchill in Downing Street entbehrt dieser Attribute und hat sich verschätzt.