Hinter den Brownies von Greyston verbergen sich Lebensläufe, die anders gekommen sind als geplant. Shawna Swanson war Hausfrau und Mutter von vier Kindern, als ihre Beziehung zerbrach und sie auch finanziell plötzlich auf sich selbst gestellt war. «Ich musste für meine Kinder sorgen. So ging ich auf Jobsuche. Doch ich wurde überall abgewiesen. Sogar bei McDonalds, das hat mich schockiert.» Sie war mit Mitte 30 schon zu alt für die Fastfoodkette.
Ein rettendes Jobangebot
Shawna Swanson hatte keinen Abschluss und praktisch keine Berufserfahrung. Sie hangelte sich mit Gelegenheitsjobs als Friseurin und Babysitterin durch, sammelte Büchsen, um die Recyclinggebühr zurückzuerhalten. Doch sie hatte Mühe, ihren Kindern Essen auf den Tisch zu stellen.
Am Tiefpunkt angelangt, stand sie eines Tages verzweifelt vor der Schule ihrer Kinder. «Ich habe überlegt, wie ich es den Lehrerinnen sagen soll: ‹Können Sie bitte meine Kinder nehmen, ich habe nicht genug Geld, um für sie zu sorgen? Sobald ich wieder auf die Füsse komme, werde ich sie holen.› Es klingt verrückt, doch ich war verzweifelt.»
In diesem Moment klingelte das Telefon. Am anderen Ende war die Greyston Grossbäckerei und bot ihr einen Job an. Monate zuvor hatte sie sich auf die Warteliste setzen lassen.
Will Dickerson sagt, er könne niemandem die Schuld geben, dass er elf Jahre im Gefängnis sass. Er habe eine gute Kindheit erlebt, Jobs gehabt. Doch auch bei ihm kam es anders. «Ich bin mit alten Freunden auf der Strasse abgehangen. Und es gefiel mir. Sie zogen mich rein. Ich fing an, Dummheiten zu machen, Drogen zu verkaufen.»
Nach dem Gefängnis fand er keine Stelle mehr. Auch für Jobs, die er bereits gemacht hatte und von denen er wusste, dass er sie konnte, bekam er eine Absage. Ausser bei Greyston.
Ein Listeneintrag reicht aus
In der Greyston-Brownie-Bäckerei in Yonkers, einem Vorort von New York, bekommt jeder eine Chance. Das radikale Konzept heisst «Open Hiring». Hier werden keine Arbeitszeugnisse und kein Lebenslauf verlangt, kein Bewerbungsgespräch und keine Ausbildungszertifikate.
Die Leute sind auf der Suche nach Hoffnung, einer Arbeitsstelle, und sie sind fest entschlossen, erfolgreich zu sein.
Geschäftsführer Joseph Kenner erklärt: «Alles, was man tun muss, ist, seinen Namen auf unsere Liste setzen zu lassen. Wenn wir jemanden brauchen, bekommt der nächste automatisch den Job. Es gibt keine Fragen, keine Überprüfung.» Rund 350 Menschen haben in den letzten 10 Jahren bei Greyston eine Chance bekommen.
Die Menschen, die bei Greyston anklopfen, haben ganz verschiedene Hintergründe: eine abgebrochene Ausbildung, alleinerziehende Eltern, keine Berufserfahrung, eine Drogenvorgeschichte, psychische Probleme, eine abgesessene Gefängnisstrafe. Joseph Kenner kennt die Vorgeschichte oft nicht. Er weiss bei der Anstellung oft nicht einmal, ob und wofür ein Angestellter im Gefängnis war, ob er ein Mörder war.
Hier zählt etwas anderes: «Die Leute, die sich bei uns melden, sind auf der Suche nach Hoffnung, einer Arbeitsstelle, und sie sind fest entschlossen, erfolgreich zu sein.» Alles basiere auf Vertrauen.
Minuspunkte bei Abwesenheit
Die Angestellten der Bäckerei bekommen, wenn nötig, Hilfe bei der Suche nach Kinderbetreuung, einer Wohnung oder bei Suchtproblemen. Eine Sozialarbeiterin arbeitet im Betrieb. Auch Will Dickerson hat so eine Wohnung gefunden.
Doch manche Angestellten müssen auch wieder gehen, weil sie unzuverlässig zur Arbeit kommen. Jedes Fernbleiben wird in einem Punktesystem erfasst. Wer zu viele Punkte verliert, muss gehen. Kenner sagt, sie hätten die Einstiegsbarrieren abgeschafft. Doch danach habe Greyston ebenso strenge Erwartungen wie andere Unternehmen. Durchschnittlich sind rund 50 Prozent der Eingestellten nach einem Jahr noch dabei; in letzter Zeit ist der Anteil deutlich höher.
Jeder muss die Chance, die er bekommt, auch packen. Shawna Swanson und Will Dickerson haben es geschafft. «Ich habe als Lehrling am Förderband angefangen, dann bin ich aufgestiegen und wurde schliesslich Aufseherin für die grosse Bäckerei. Es ist toll», erzählt Shawna. Auch Will Dickerson ist aufgestiegen. Die Arbeit sei streng. «Es geht schnell vorwärts hier, manchmal kann man sich über Stunden nicht hinsetzen. Aber ich freue mich auf die Arbeit.»
Ausgezeichnetes Geschäftsmodell
Ein Problem im Arbeitsmarkt ist es, dass Unternehmen zum Teil nicht genügend Arbeitskräfte finden. Umgekehrt finden manche Menschen monate- oder jahrelang keine Stelle, weil ihnen niemand einen Job gibt. Greyston löst gleich beide Probleme.
Dafür wurde es am WEF in Davos mit dem Innovationspreis ausgezeichnet. Es sei auch für die lokale Wirtschaft wertvoll, sagt die Wirtschaftsförderin Bridget Gibbons. «Es ist eine Positivspirale. Diese Leute brauchen Jobs und Löhne. Die Arbeitgeber in unserer lokalen Wirtschaft brauchen die Angestellten. Und das alles hilft der Wirtschaft zu wachsen.»
Greyston hat nicht nur meine Familie gerettet, sondern mir auch viel beigebracht.
Geschäftsführer Joseph Kenner fordert dazu auf, klassische Rekrutierung zu überdenken. «Was sind die Barrieren, die wir unnötig aufstellen, und die verhindern, dass gute Leute in den Betrieb kommen? Lasst uns überlegen, wie wir das ändern können. Es lohnt sich, denn man bekommt loyale Leute.» Das wirke sich auch positiv auf die Produktivität aus, sagt Kenner.
Viele bleiben im Unternehmen
Greyston berät andere Firmen, die an seinem Modell interessiert sind. Zusätzlich wirbt Greyston für seine Produkte mit dem sozialen Modell. Das sei ein Mehrwert beim Verkauf und Marketing der Brownies.
Manche Angestellte machen sich selbstständig oder finden eine Stelle bei einem anderen Unternehmen. Doch viele bleiben dem Unternehmen treu. Sie schätzen die gute Stimmung im Team und was Greyston für sie getan hat. Shawna Swanson ist bis heute dankbar. «Wenn ich meine Kinder verloren hätte – ich weiss nicht, ob ich es geschafft hätte. Sie bedeuten mir alles», sagt sie unter Tränen. «Und so verdanke ich Greyston alles. Sie haben nicht nur meine Familie gerettet, sondern mir auch viel beigebracht.»
Shawna hat von Greyston eine Chance bekommen, als niemand anders ihr eine gab. Sie hat es nicht vergessen.