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Rückzug aus Afghanistan «Die USA werden nicht mehr so stark auf Manpower setzen»

US-Präsident Joe Biden hat das Ende des US-Einsatzes in Afghanistan erneut verteidigt. In einer Rede bezeichnete er den Rückzug als das «Ende einer Ära». Die Zeit, in der die USA «mit militärischen Mitteln andere Länder umgestalten» wollten, sei vorbei. USA-Experte Christian Lammert rechnet bis dahin jedoch mit einer längeren Übergangsphase.

Christian Lammert

Politologe

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Christian Lammert ist Professor für nordamerikanische Politik am John F. Kennedy Institut an der Freien Universität Berlin.

SRF News: Warum wollen die USA auf Militäreinsätze verzichten?

Christian Lammert: Ein Grund ist, dass die USA damit bislang nicht erfolgreich waren. Das hat man in Afghanistan gesehen. Unter Barack Obama waren fast 100'000 Soldaten dort stationiert, aber die Mission wurde nicht erfüllt. Zudem ist die innenpolitische Unterstützung dafür, Ressourcen zu investieren, um in anderen Ländern Zivilgesellschaften aufzubauen, massiv zurückgegangen.

Beschränkt sich die Aussenpolitik damit auf reine Sicherheitspolitik?

Das ist ein Schwerpunkt. Das Militär wird nur noch benutzt, um die Sicherheitsinteressen der USA zu verteidigen. Biden hat aber auch gesagt, wenn es um die Situation in anderen Ländern gehe, müsse man mit Mitteln der Diplomatie und der humanitären Hilfe operieren – zusammen mit Partnern, Ländern, internationalen Organisationen.

Hoch technisierte Mittel, ohne Soldaten in grossem Umfang einzusetzen: Das ist die Zukunft im Kampf gegen den Terror.
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Wie das dann genau aussehen soll, sagte er nicht. Militäreinsätze solle es aber wirklich nur noch im Kampf gegen den Terror oder zur Verteidigung der USA geben.

Wie soll das gehen, wenn keine Soldaten mehr im Ausland sind?

Während des Rückzugs aus Afghanistan sah man, dass weiterhin Spezialkräfte im Einsatz waren, unterstützt von Drohnen. Das ist die Zukunft im Kampf gegen den Terror: hoch technisierte Mittel, ohne Soldaten in grossem Umfang einzusetzen.

Eine mit Drohnen quasi ferngesteuerte Sicherheitspolitik fordert dennoch zivile Opfer. Nehmen das die USA einfach in Kauf?

Ja, das müssen sie, weil diese Systeme nicht hundertprozentig sicher sind. Aber wir haben in der Vergangenheit gesehen: Die Legitimierung solcher Einsätze in den USA wackelt immer dann, wenn eigene Soldaten zu Schaden kommen, wenn die Särge nach Hause geflogen werden.

Aber bei Zivilisten, die bei Drohnenangriffen sterben, gibt es nur kurze Diskussionen. Hier wird also die Last auf die Zivilbevölkerung in den Ländern verschoben, und das ist natürlich sehr problematisch.

Heisst das, dass für die USA das Militär nun weniger wichtig wird?

Nein, es ist immer noch sehr wichtig. Es ist immer noch ein Kampf um Einfluss und wichtige Ressourcen. Heute geht es nicht mehr unbedingt um Öl, sondern um seltene Erden, die man für die Technologie braucht. Aber die USA werden ihr Militär umstrukturieren; mehr in Digitalisierung und Aufklärung investieren und nicht mehr so stark auf Manpower setzen. Das hat schon vor 20 Jahren eingesetzt und wird jetzt forciert.

Die USA wollen ihre Militärhilfe für die Ukraine ausbauen. Ist das nicht auch eine Art «mit militärischen Mitteln gestaltend eingreifen»?

Biden wird wahrscheinlich sagen: Wir schicken keine Soldaten, sondern wir unterstützen unsere Partner, indem wir ihnen Material zur Verfügung stellen und sie ausbilden. Das ist eine indirekte militärische Hilfe, die nicht erfordert, dass eine grosse Anzahl von Soldaten vor Ort ist.

Man schickt Material hin, um die Soldaten dort damit auszustatten. Damit würden keine amerikanischen Leben riskiert.
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Das könnte jetzt ein Übergang sein: Wenn etwas benötigt wird, werden keine Soldaten mehr hingeschickt, sondern Material, um die Soldaten dort damit auszustatten. Damit würden keine amerikanischen Leben riskiert. Aber so ein Politikwechsel vollzieht sich natürlich nicht von Tag eins auf Tag zwei. Die neue Strategie bildet sich erst langsam heraus.

Das Gespräch führte Hans Ineichen.

SRF 4 News, 02.09.2021, 07:20 Uhr ; 

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