Der ukrainischen Armee ist es in den letzten Wochen gelungen, die russischen Besatzer an mehreren Frontabschnitten zurückzudrängen. Grössere Gebiete mit Dutzenden Ortschaften sind wieder unter ukrainischer Kontrolle. Doch auch wenn die Russen erstmal weg sind – der Krieg ist in den befreiten Gebieten nicht vorbei. So zum Beispiel in Cherson.
Noch vor wenigen Wochen kontrollierten die Russen die Gegend – bis sie von den Ukrainern zurückgedrängt wurden. Die Dörfer und Felder hier sind immer noch Frontgebiet. Das Team von Radio SRF wird von einer Presseoffizierin der ukrainischen Armee begleitet, an Checkpoint kontrollieren Soldaten jedes Auto, im Schutz von Bäumen stehen gepanzerte Mannschaftstransporter, Artilleriegeschütze. Zivilisten sind kaum unterwegs.
Eingestürztes Dach – gepflegter Garten
Eine der wenigen, die noch ausharrt, ist Nina Petrovna. Die 73-Jährige führt durch ihren Garten – ein grosses Grundstück. In einem Schopf hält sie Hühner und drei Schweine – es ist Zeit, die Tiere zu füttern. «Wir haben Krieg, aber um Haus und Hof muss man sich trotzdem kümmern», sagt Petrovna. Ihr Haus allerdings ist eine Ruine. Mutmasslich russische Brandbomben haben es in Schutt und Asche gelegt. Das Dach ist eingestürzt, im Innern ein schwarz-braunes Durcheinander von verkohlten Balken und Schutt.
Überhaupt: Im ganzen Dorf ist die Zerstörung fürchterlich. Entlang der Hauptstrasse ist so gut wie kein Haus heil geblieben. Die Schule ist komplett zerschossen. Miroljubovka heisst der Ort, in dem Nina Petrovna lebt. «Friedensliebe», bedeutet der Name des Dorfes. Der Krieg hat es in eine apokalyptische Ruinenlandschaft verwandelt. Petrovna, die ehemalige Lehrerin und Dorfvorsteherin, hat alles miterlebt: «Am 11. März kamen die Russen. Seither lebe ich im Keller, dort drüben im Garten ist der Eingang.»
Normale Zivilisten haben die Russen nicht angefasst. Aber sie haben Leute gesucht, die früher schon im Donbass gekämpft haben.
Nina Petrovna hat viele Falten in ihrem sonnengegerbten Gesicht. Sie trägt eine Wollweste gegen die herbstliche Kälte und hat ein knallgelbes Kopftuch umgebunden. Ihre Schilderungen der Besatzungszeit sind nüchtern, sachlich. «Normale Zivilisten wie mich haben die Russen nicht angefasst. Aber sie haben Leute gesucht, die früher schon im Donbass gekämpft haben. Der eine Nachbar wurde mit erhobenen Händen durchs Dorf gejagt. Einen anderen haben sie misshandelt – weil sein Enkel für die Ukraine gekämpft hat.»
Von den 700 Einwohnerinnen und Einwohnern Miroljubovkas haben etwa 100 unter der russischen Besatzung ausgeharrt. Petrovna erzählt vom Dilemma, unter dem die Menschen litten: Wie mit dem Feind umgehen? «Die Russen waren zunächst selbst schlecht versorgt. Dann haben sie Nachschub bekommen und uns humanitäre Hilfe angeboten», erzählt sie.
«Erst wollten wir nichts nehmen, weil wir dachten, wir werden dafür von der Ukraine vor Gericht gestellt, wegen Kollaboration.» Aber dann habe ihr Sohn angerufen und gesagt: Der Aggressor müsse sich um die Menschen in den besetzten Gebieten kümmern. «So haben wir dann von den Russen doch Nahrungsmittel genommen. Meist gab es aber nur Buchweizen.»
Doch nicht nur die schlechte Versorgungslage war ein Problem für die Menschen. Noch viel schlimmer: die ständigen Kämpfe. «Manchmal konnte ich den ganzen Tag nicht aus dem Keller. Mein Haus ist buchstäblich zwischen die Fronten geraten.»
Irgendwann habe sie keine Kraft mehr gehabt. Diese ständigen Gefechte. «Ich schrieb in mein Tagebuch ein paar Worte an meine Liebsten – und schrieb, dass ich mich verabschiede und dass ich nicht mehr weiterleben kann. Kaum hatte ich das geschrieben, hörte ich vor der Kellertür Stimmen, Männerstimmen, die ukrainisch sprachen. Unsere Soldaten waren da.»
«Ich habe beim Moment der Befreiung nicht einmal geweint», sagte Petrovna, «denn ich hatte keine Tränen mehr».
Die grosse Tragödie von Nina Petrovna: Als Miroljubovka schon befreit war, hätten die Russen es erneut beschossen, erzählt sie. Auch mit Brandbomben. Das schon beschädigte Haus der Rentnerin brannte komplett ab. Also lebt sie weiter im Keller neben der Ruine ihres Lebens. Und der Krieg geht weiter.