Die Kleinstadt Butscha bei Kiew wird mit erschreckenden Bildern gerade zum Inbegriff für Kriegsverbrechen durch russische Soldaten an der Zivilbevölkerung. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch berichtet von Mord, Vergewaltigung und Plünderung auch an anderen Orten. Der Historiker und Gewaltforscher Jan Claas Behrends erklärt die Dysfunktionalität von Putins Armee.
SRF News: Was waren Ihre ersten Gedanken bei den Bildern aus Butscha?
Jan Claas Behrends: Auch wenn mich das nicht vollkommen überrascht hat, ist man natürlich menschlich schockiert. Wir werden in diesem Krieg fast in Echtzeit über alle Ereignisse informiert und so auch über diese Kriegsverbrechen. Es muss sich nun zeigen, ob das nicht die Normalität in diesem Konflikt abbildet.
Sie erforschten die russische Kriegsführung historisch. Erkennen Sie in Butscha eine klare russische Handschrift?
Ich erkenne die Handschrift einer russischen Armee oder auch schon der sowjetischen Armee in Afghanistan in den 1980er-Jahren oder in Tschetschenien. Wenn sie in Bedrängnis gerät, militärisch keine Erfolge mehr hat oder auch Rache für Verluste üben will. Oder wenn sie versucht, die Zivilbevölkerung zu unterdrücken und durch Terror Widerstand auszuschalten
Warum kommt es immer zu solcher Gewalt im Moment, wo kriegerische Erfolge ausbleiben?
Sicherlich durch Frustration, aber auch durch schlechte Disziplin. Man muss verstehen, wie die russische Armee funktioniert, beziehungsweise wie dysfunktional sie ist. Hier wird auch fehlende Professionalität kompensiert. Dazu kommt das schlechte Verhältnis zwischen Mannschaften und Offizieren.
Diese Armee tritt nicht nur nach aussen sehr gewalttätig auf, sondern ist auch gegen ihre Wehrpflichtigen sehr gewalttätig. So kann solche Gewalt möglich werden. Zudem machten die Truppen die Erfahrung, dass Gewalttäter in den eigenen Reihen durch russische Gerichte nicht bestraft werden. Das geschah weder in Afghanistan, noch in Tschetschenien. Insofern gibt es ein historisches Muster.
Es ist also nicht eine Strategie aus Moskau, sondern Frust und mangelnde Disziplin?
Das ist schwer zu sagen, ohne die russische Befehlskette zu kennen. Aus der Gewaltforschung ist aber bekannt, dass solche Massaker nur selten von oben angeordnet werden. Häufig sind es eher lokale Dynamiken. Solche Gewalttaten werden ausgeübt, weil die Akteure wissen, dass sie nicht dafür bestraft und vielleicht sogar dafür belohnt werden.
Wo liegen die Wurzeln dieser russischen Kriegsführung?
In der russischen Gesellschaft. Jede Armee ist als wichtige Institution auch Abbild ihrer Gesellschaft. Die post-sowjetische Armee bildet ab, was man aus dem Putinschen Staat kennt: Korruption und hohe Dysfunktionalität. Es ist eine schwache Institution, die ihre eigenen Regeln nicht durchsetzen kann. Das Verhältnis in den Hierarchien ist schlecht. Auch die Menschenrechte der Wehrpflichtigen werden vom Einzug an grob missachtet.
Seit wann fällt die russische Armee mit solchen Kriegsverbrechen auf?
Das ist mindestens bis zum Afghanistan-Konflikt zurückverfolgbar, der zehn Jahre bis 1989 dauerte. Die russische Armee war damals sehr unerfahren in der Partisanenbekämpfung und kompensierte mit Brutalität. Dabei kamen Tausende, wenn nicht Hunderttausende Zivilisten um, und Millionen wurden von den Sowjettruppen vertrieben. Da lässt sich über die einzelnen Akteure aus dem Offizierskorps eine direkte Linie in die post-sowjetischen Kriege ziehen – bis heute.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.